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Der liebe Gott und die bösen Töne

Andreas Hahn war Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsaufgaben der Evangelischen Kirche von Westfalen. Nun geht er in den Ruhestand. Eine Krebsdiagnose begleitet ihn seit 10 Jahren.

Andreas Hahn ist leidenschaftlicher Bassist
Andreas Hahn ist leidenschaftlicher BassistGerd-Matthias Hoeffchen

Andreas Hahn ist in seinem Element. „D moll 7, es folgt Des 7. Etwas unerwartet C moll 7. Das steigert die Spannung.“ Der Stift in der Hand zaubert Noten und Akkorde aufs Papier. Auf dem Schoß der E-Bass, mit dem der ganz in die Kunst versunkene Mann zwischendurch erklingen lässt, was er erklärt.

Andreas Hahn ist Pfarrer. Beauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) für Sekten- und Weltanschauungsfragen. Nach zehn Jahren Dienst geht er in den Ruhestand; evangelische-zeitung.de möchte mit ihm über seine Arbeit sprechen. Aber Hahn ist auch leidenschaftlicher Musiker, ein Könner am Jazz-Bass. Zum Abschiedsgespräch hat er sein Instrument mitgebracht, weil der evangelische-zeitung.de-Redakteur am Telefon gesagt hat, dass auch er sich fürs Bassspielen interessiere. Nur die Jazz-Musik, die bleibe ihm ein Buch mit sieben Siegeln.

Pfarrer Andreas Hahn hatte mit Gott eigentlich nichts am Hut

Und so sitzen die beiden zusammen. Pfarrer erklärt. Redakteur staunt. Auf dem Tisch das Buch „Neue Jazz-Harmonielehre“. Irgendwann wird das Gespräch auch auf den eigentlichen Anlass des Treffens kommen.  Aber jetzt geht es erst mal um Doppel-Dominanten, Sekundär-Dominanten, Substitut-Dominanten, den umgekehrten Tritonus. Und immer wieder um den Walking Bass, eine grundlegende Spielweise im Jazz. „Wichtig ist nicht der einzelne Ton“, sagt Andreas Hahn. „Sondern der Zusammenhang. Und dass es immer weitergeht.“ Deshalb Walking Bass – der fortschreitende Bass.

Jazz ist die vielleicht am meisten verkopfte Form der Musik. Eine akademische Spielart, die Herausforderungen an Denken und Verstehen bereithält. Und das passt ganz gut zu Andreas Hahn.

„Als junger Mensch war ich von der Physik fasziniert“, erzählt der Pfarrer. Ursprünglich hatte er mit Gott nichts am Hut, fand dann aber in der Jugendarbeit einer Kirchengemeinde zum Glauben. „Mir wurde klar: Ich wollte Pfarrer werden.“ Einerseits wollte der angehende Theologe mit Menschen zusammenarbeiten. Andererseits hatte Hahn weiterhin Freude an gedanklicher Schärfe und wissenschaftlicher Methodik. So arbeitete er am Institut für Hermeneutik bei Professor Eberhard Jüngel und im Tübinger Arbeits- und Forschungsbereich Theologie und Naturwissenschaften.

Krebsdiagnose für Andreas Hahn: “Dir bleiben drei Jahre”

Als er dann 2015 als Pfarrer – nach Vikariat, Arbeit in Gemeinde und im Religionsunterricht – die Stelle in Westfalen antrat, war das für Andreas Hahn wie ein Sechser im Lotto. „Der Arbeitsbereich Sekten- und Weltanschauungsfragen war lange unbesetzt. Ich durfte ihn komplett neu aufbauen.“ Glaube und scharfe Beobachtung, Vernetzung mit Kolleginnen und Kollegen, vielschichtige Sachverhalte auf den Punkt bringen – das war, so sagt Andreas Hahn noch heute voll Begeisterung, seine Traumstelle. Aber wenn der Tod ins Leben bricht, kann auch schärfstes menschliches Denken und Wissen an seine Grenze geraten.

Kurz nachdem Andreas Hahn seine Traumstelle in der EKvW angetreten hat, wird beim damals 53-Jährigen fortgeschrittener Krebs diagnostiziert. Der Chefarzt, ein Freund, sagt ihm: Dir bleiben drei Jahre. „Ich war vor den Kopf gestoßen“, erinnert sich Andreas Hahn. „Gerade noch mit mir und der Familie im Reinen und erfüllt vom Hochgefühl über die neue berufliche Aufgabe – und dann wird dir alles gleich wieder genommen.“ Er habe immer nur das Eine denken können: Gott, das ist doch nicht fair!

Musik hilft bei Krankheit: Die Enttäuschung rausschreien

Die erste Zeit war brutal. Er habe gehadert, gezürnt. „Ich habe mit Gott gerungen, wie Hiob in der Bibel.“ Jeder wisse ja, dass er irgendwann sterben wird. Aber gerade jetzt? So früh?

Auch seine Musik ändert sich. Hatte Andreas Hahn sich bis dahin als Jazz-Bassist einen Namen gemacht, steigt er jetzt um: Metal, die düstere Seite der Rockmusik. Er kauft sich einen schwarzen Bass. Der hat eine zusätzliche, besonders tiefe Saite, die den Ton schwer, fast „böse“ machen kann. Die Musik ist laut und körperlich, ganz anders als Jazz. „Ich kann dabei meinen Schmerz, meine Enttäuschung hinausschreien.“

Auch der Himmel verändert sich: „Gott gab es noch. Aber er war mit einem Mal ganz weit weg“, berichtet der Pfarrer. „Kein Kuschelgott, kein lieber Gott, der an deiner Seite steht.“ Doch sein Glaube zerbrach daran nicht. „Ich sehe Gott heute als unendlich groß. Er ist in weiten Teilen ein Geheimnis, das wir Menschen schlicht nicht fassen können.“ Andreas Hahn, der immer versucht hatte, die Dinge vom Verstand her zu erfassen, merkte: Angesichts der Ewigkeit haben Fragen nach dem „Warum“ wenig Sinn. „Gott hat die Sterne geschaffen. Er trägt das Universum. Und er trägt auch mich.“

Am Ende ist es wie beim Walking Bass: Einfach weitergehen

Das ist jetzt knapp zehn Jahre her. Dass er noch lebt, sei ein medizinisches Wunder, sagt Andreas Hahn. Im Moment wirkt er fest, im Frieden mit sich. Aber wenn wieder richtig schlimme Schmerzen kommen sollten … „Ich hoffe einfach darauf, dass es dann genügend starke Medikamente gibt.“

Andreas Hahn überlegt einen Augenblick. Eigentlich, sagt er, führe er auf eine gewisse Art ein tolles Leben. Intensiv. Mit der Familie. Der Ehefrau. „Jeder Tag ist ein Geschenk.“ Wenn er am 25. Februar in den Ruhestand verabschiedet wird, habe er einiges vor. An einem Buch arbeiten. Spazieren gehen. Zur Leipziger Buchmesse fahren. Ob das klappt, müsse sich halt zeigen.

Am Ende sei es vielleicht so wie beim Walking Bass: weitergehen, einfach weitergehen. Ton für Ton. Schritt für Schritt. Es gibt Spannungen. Dissonanzen. Auch Harmonien. Und immer etwas zu entdecken. Sein Glaube werde jetzt herbstlich, sagt Andreas Hahn. Er färbe sich schön. „Bald kommt der Winter“, weiß der Pfarrer, Musiker, Ehemann, Familienvater. „Aber es geht weiter. Es wird einen Frühling geben. Bei Gott. Wie auch immer der aussehen wird. Aber es geht weiter. Auch für mich.“
Gerd-Matthias Hoeffchen