Die gesamte bayerische Politikprominenz ist am Abend des 8. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller versammelt. Bayerns Generalstaatskommissar Gustav von Kahr will eine Rede halten. Im Saal ist auch ein Mann mit Seitenscheitel und kurzem Oberlippenbart. Noch ein Schluck aus dem Bierseidel, dann erklimmt Adolf Hitler einen Stuhl, hebt seine Pistole und schießt in die Decke. In die entgeisterten Gesichter im Saal hinein ruft er eine „nationale Revolution“ aus und erklärt die bayerische und die deutsche Regierung für abgesetzt. Mitglieder der SA umstellen den Saal.
Hitler bittet die drei starken Männer Bayerns – neben Kahr sind das der Landeskommandant der Reichswehr, Otto von Lossow, und der Landespolizeichef Hans von Seißer – in einen Nebenraum. Dort trägt der Anführer der NSDAP ihnen an, mit ihm zusammen die von ihnen allen gehasste Reichsregierung in Berlin zu stürzen. Aber die drei, die in Bayern selbst eine Rechtsdiktatur anführen und reichsweit eine anstreben, lehnen ab. Erst als Erich von Ludendorff, ehemals Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg und Hitlers Verbündeter, hinzustößt und auf sie einredet, stimmen sie zu.
Die Nazis versuchen den Putsch vor 100 Jahren vor dem Hintergrund großer politischer Turbulenzen im Krisenjahr 1923: Hyperinflation, Umsturzversuche von rechts und links, „proletarische Arbeiterregierungen“ in Sachsen und Thüringen, eine scharf rechtsgerichtete in Bayern, Separatisten im Rheinland und der Pfalz.
Die Situation 2023 ist nicht vergleichbar mit der in der jungen Weimarer Republik. Aber auch heute folgt eine Krise auf die nächste, faschistische Ideen gewinnen an Zuspruch, der Ton zwischen den politischen Lagern wird rauer. Im September vergangenen Jahres wurden Rechtsextremisten und „Reichsbürger“ verhaftet, weil sie einen Umsturz geplant haben sollen.
Ähnlichkeiten zwischen den 1920er und 2020er Jahren gebe es tatsächlich, sagt der Marburger Historiker Martin Göllnitz: „Was sich beispielsweise erkennen lässt, ist die Schaffung von Feindbildern.“ Die Rhetorik der AfD sei voll davon, aber selbst in den Unionsparteien finde sich das. „Menschen als nicht wirklich zugehörig zum deutschen Volkskörper zu beschreiben, das sehen wir in den 1920er Jahren ebenso wie heute“, erklärt der Marburger Forscher.
Dem stimmt auch Andreas Wirsching zu, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. „Das Bild, dass man selbst das eigentliche Volk sei und andere nicht, das ist ein klassisch rechtsradikales Bild“, erklärt er. Diese „ideologische Fiktion“ sehe man bei der AfD, sie sei aber mittlerweile auch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ein relevanter Teil der Menschen damals wie heute bearbeite komplexe Probleme durch simple Feindbilder.
Ein weiteres „analoges Potenzial“ sieht der Münchener Historiker im „Aufschaukeln der Ränder“. Der Kulturkampf, in dem die Linke und die Rechte verhakt seien, sei zwar bei weitem nicht so stark wie in der Weimarer Republik, sagt er: „Aber man weiß ja nicht, wohin das noch führt.“
Selbstverständlich, erläutern sowohl Göllnitz als auch Wirsching, gebe es erhebliche Unterschiede zwischen damals und heute. Wirsching weist darauf hin, dass die Inflation vor 100 Jahren existenziell weit bedrohlicher gewesen sei als heute. Göllnitz sagt, anders als damals müssten die politisch Rechten Gefahren weitgehend herbeifantasieren, etwa bei der Verschwörungserzählung, die Regierung plane, die deutsche Bevölkerung gegen Migranten „auszutauschen“ oder dass die Menschen zu vegetarischer Ernährung oder zum Gendern gezwungen werden sollten.
Zudem, sagt Göllnitz, sei die Rechte 1923 ideologisch viel geeinter gewesen, was die Zusammenarbeit einzelner Gruppen erleichtert habe. Die verschiedenen „Reichsbürger“-Gruppen heute seien hingegen sehr heterogen und eigentlich nur in ihrer Ablehnung der Bundesrepublik einig.
Hitler und Ludendorff hätten 1923 außerdem darauf hoffen können, viele heimliche Unterstützer in den Sicherheitskräften für ihren Umsturz zu finden – bis hin zum Reichswehrchef Hans von Seeckt, betonen ebenfalls beide Wissenschaftler. Heute hingegen seien Polizei und Militär gefestigt demokratisch. „Ich glaube, unsere Demokratie ist stabil genug, um mit so einem Putschversuch umgehen zu können“, sagt Göllnitz.
Vor 100 Jahren bricht der Hitler-Ludendorff-Putsch nach dem 8. November schnell zusammen. Ludendorff lässt Kahr, Lossow und Seißer gehen. Kaum aus dem Bürgerbräukeller entkommen, widerrufen sie ihre Zusagen. Während Hitler und Ludendorff darauf warten, dass sie einen Marsch auf Berlin vorbereiten, lassen sie München abriegeln, erklären die NSDAP für aufgelöst und ziehen Militär- und Polizeieinheiten zusammen.
Am frühen Morgen des 9. November versammeln sich die Umstürzler zu einem Marsch durch München. Schon nach kurzer Strecke endet der Zug an einer Polizeisperre auf dem Odeonsplatz vor der Feldherrnhalle. Schüsse fallen, zwischen 17 und 20 Menschen sterben. Die Putschisten rennen auseinander. Ludendorff wird noch am selben Tag verhaftet, Hitler zwei Tage später im Haus von Bekannten, gehüllt in einen viel zu großen, blauen Bademantel.
Die Strafen für die Aufrührer fallen sehr milde aus, Ludendorff wird gleich ganz freigesprochen. Hitler ist nach weniger als neun Monaten Haft wieder frei. Seinen nächsten Griff zur Macht bereitet er besser vor.