Das Leben wird immer schneller, Gewissheiten geraten ins Wanken, Menschen verlieren den Boden unter den Füßen und werden in einen Strudel gerissen. So scheint August Macke empfunden zu haben, als er 1913 die Zeichnung „Der Weltuntergang“ schuf. Mehr als 100 Jahre später lässt die britische Künstlerin Emma Talbot in ihrem Video eine weibliche Figur durch violett-grüne Wellen purzeln – „dem Zusammenstoß entgegen“. Wieder ist die Welt im Umbruch und reißt den Menschen mit. Waren es zu Mackes Zeiten die Industrialisierung und das Zulaufen auf einen Weltkrieg, sind die Treiber heute Digitalisierung, Globalisierung und Klimakrise.
Mit der Ausstellung „Menschheitsdämmerung – Kunst in Umbruchzeiten“ schlägt das Kunstmuseum Bonn nun eine Brücke zwischen der Kunst zu Beginn des 20. und des 21. Jahrhunderts. Die Schau, die ab Donnerstag zu sehen ist, stellt Bezüge zwischen der Klassischen Moderne und der Gegenwartskunst her, beleuchtet auf Parallelen der beiden Epochen. Sie zeigt aber auch auf, wo die Unterschiede liegen und wie sich Perspektiven verschoben haben. Dabei hinterfrage die Kunst nicht nur, sondern schaffe auch neue Perspektiven und verweise auf Handlungsmöglichkeiten, betont Museumsdirektor Stephan Berg.
Der Regenwald brennt, die Polkappen schmelzen
Zu sehen sind insgesamt 41 Werke aus den beiden ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts im Dialog mit 38 zeitgenössischen Arbeiten. Präsentiert werden Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen, Videoarbeiten und Installationen. Darunter sind Arbeiten von Nevin Aladag, Monica Bonvicini, Heinrich Campendonk, Louisa Clement, Max Ernst, Alexej von Jawlensky, Käthe Kollwitz, Wilhelm Lehmbruck, Max Liebermann und August Macke.
August Mackes „Weltuntergang“ spiegelt sich im wahrsten Sinne des Wortes in der rund 100 Jahre später entstandenen Arbeit von Francis Alÿs. Der belgische Künstler, Träger des diesjährigen Wolfgang-Hahn-Preises der Gesellschaft für Moderne Kunst in Köln, montierte drei kleine Gemälde vor einen wandhohen Spiegel, die Naturkatastrophen zeigen: Das Schmelzen der Polkappen, einen Tornado und das Brennen des Regenwaldes. Die Rückseiten der Gemälde, die nur als Kehrbild im Spiegel zu sehen sind, zeigen utopische Szenarien wie etwa spielende Tiere. Hier wird die Zukunft über die Schreckensszenarien der Klimakatastrophe hinausgedacht. Zugleich werden die Betrachterinnen und Betrachter mit ihrem Spiegelbild Teil des Kunstwerks und damit des gesamten Szenarios.

Im Strudel des Umbruchs suchen Menschen nach ihrer Identität. In der Gegenwartskunst sind es vor allem Fragen der digitalen Revolution und Diversität, die eine neue Sicht auf das Ich notwendig machen. Die Bonner Künstlerin Louisa Clement setzt sich mit der Beziehung von digitaler und analoger Existenz auseinander. Sie hat ihren eigenen Avatar mit all seinen Daten aus dem Internet als lebensgroße Puppe ins Hier und Jetzt geholt.
Die mit KI programmierte „Repräsentantin“ ist ein Chatbot, der auf der Persönlichkeit der Künstlerin basiert. Besucherinnen und Besucher können in einem Sessel neben dem Avatar Platz nehmen und ein Gespräch beginnen. Gleich daneben sind Käthe Kollwitz‘ Grafiken „Selbstporträt“ und „Mutter und Kind“ zu sehen, mit denen sie rund 110 Jahre zuvor die weibliche Perspektive in die Kunst einführte. Beiden Künstlerinnen ist gemein, dass sie durch die Darstellung ihres eigenen Körpers auf aktuelle gesellschaftliche Probleme verwiesen, erklärt Kuratorin Stefanie Kreuzer.
Klassische Moderne spielt mit Exotik
Zu Beginn der Klassischen Moderne machten der technische Fortschritt und damit schnellere Transportwege Kunsthandwerk und Stoffe aus fernen Ländern in Europa zugänglich. Künstler der Klassischen Moderne spielten gerne mit der Exotik. So etwa Alexej von Jawlensky, der 1911 eine junge Frau mit einem blauen Turban malt. War es damals ein Spiel mit Exotik, so sind es heute Fragen nach den Folgen des Kolonialismus und der Ausdruck von Diversität, die sich in der Kunst niederschlagen. Die dunkelhäutige Düsseldorfer Künstlerin Anys Reimann malte 2021 mit „Le Noire de…VII“ ein Porträt einer Frau, die die gleiche Kopfhaltung einnimmt wie Jawlenskys Frau mit Turban. Doch an die Stelle verspielter Exotik ist hier die selbstbewusste Präsenz einer dunkelhäutigen Frau getreten.