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“Demmin ist mehr”: Eine Stadt stellt sich ihrem Trauma

Aus Angst vor Übergriffen der Roten Armee begingen zum Kriegsende 1945 etwa 2.000 Menschen Selbstmord in Demmin. Wie die Stadt in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Trauma umgeht.

In Demmin findet eine Gedenkwoche statt
In Demmin findet eine Gedenkwoche stattAnja Goritzka

Demmin ist ein beschauliches Städtchen in Vorpommern. Hier fließen Peene, Trebel und Tollense zusammen. Sportvereine sorgen sich um Kinder und Jugendliche, es gibt einen Jugendclub der evangelischen Kirchengemeinde. Das Peenefest nach Pfingsten ist seit Mitte der 90er Jahre ein Besuchermagnet. Seit 2018 engagiert sich der Kulturverein „T30“ für Projekte in Politik, Kultur und Gesellschaft.

Eine kleine Hansestadt mit einer traurigen Vergangenheit: Im April und Mai 1945 begingen hier über 2000 Menschen Selbstmord, aus Angst vor Übergriffen durch die Rote Armee. Seit 2009 versuchen Neonazis am 8. Mai die Geschehnisse in Demmin von 1945 zu vereinnahmen. Ein sogenannter Trauermarsch geht vom Bahnhof durch die gesamte Stadt zum Hafen. Es werden Kränze in die Peene geworfen. Seit 2009 gibt es auch Gegenaktionen vom „Aktionsbündnis 8. Mai Demmin“. Hubschrauber fliegen dann über der Stadt, überall Polizeipräsens, Menschen stellen sich den Nazis mit bunten Aktionen in den Weg. (Mehr über den Massenselbstmord lesen Sie hier.)

Demmin: Aktionswoche zum Kriegsende

„Wir wollen mit unserer Woche vor dem 8. Mai aufklären und Erinnerung schaffen“, sagt Nancy Klevenow von der Stabstelle für Marketing der Hansestadt. Seit 2024 gibt es eine Aktionswoche zum Kriegsende. Die Idee stammt vom Bürgermeister Thomas Witkowski. Ihm sei es wichtig, zu den Geschehnissen Stellung zu beziehen. Das Bundesprogramm „Demokratie leben“ fördert das Projekt.

Der ehemalige Propst Panknin und der katholische Propst für Vorpommern, Frank Hoffmann, legten bei einer Gedenkveranstaltung zum Kriegsende in Demmin 2015 einen Kranz nieder
Der ehemalige Propst Panknin und der katholische Propst für Vorpommern, Frank Hoffmann, legten bei einer Gedenkveranstaltung zum Kriegsende in Demmin 2015 einen Kranz niederAnja Goritzka

In diesem Jahr gibt es Vorträge zur jüdischen Geschichte Demmins und kulturelle Angebote vom Hipp-Hopp-Workshop bis zum Brecht-Abend. Auch die Kirchengemeinde Demmin beteiligt sich an der Woche „Demmin ist mehr…“, die vom 1. bis 8. Mai stattfindet. Am Dienstag, 6. Mai, um 14 Uhr, stellen Jugendliche des Evangelischen Schulzentrums „Katharina von Bora“ in St. Bartholomaei ihre Texte und Bilder zum Thema „Heimat. Angst. Wie weiterleben?“ aus, entstanden in einer Projektwoche mit der Akademie der Künste Berlin.

Kunstprojekt zu Heimat und Angst in Demmin

„Im Nachgang zu den Juniorwahlen, die bei uns stattfanden, wollten wir uns gerne mit diesem Thema beschäftigen“, sagt Schulleiter Jörg-Uwe Braun. Zusammen mit der Schriftstellerin Kerstin Hensel und dem Maler und Bühnenbildner Mark Lammert werden sich an fünf Tagen zwei Gruppen mit Kindern und Jugendlichen aus den Klassen sieben bis zehn mit den Begriffen Heimat und Angst beschäftigen. Wichtig sei dabei das gemeinsame emotionale Erleben und eine Form des eigenen Ausdrucks zu finden, sagt Braun. Das Evangelische Schulzentrum ist inklusiv aufgestellt. „Unsere Gesellschaft ist divers. Bei unserem Projekt sollen alle mitgenommen werden.“

Um 16.30 Uhr gibt es am Dienstag, 6. Mai, im Gemeindehaus von St. Bartholomaei einen Vortrag von Arne Bölt, Mitglied der Nagelkreuzgemeinschaft. Er berichtet über eine Reise zu Versöhnungszentren in der Ukraine und in Russland. Am Abend um 20 Uhr werden in der Kirche alle Namen verlesen, die im „Totenbuch“ von Demmin von 1945 aufgeschrieben sind. Es wurde damals von Friedhofsmitarbeitern erstellt. Auch der erschossenen Kriegsgefangenen wird namentlich gedacht. „Lange verschwiegen, erklingen die Namen in die Stille der Kirche“, heißt es im Veranstaltungsflyer.

Kriegsende ist in Demmin immer präsent

„Das Thema Kriegsende ist hier immer präsent. Menschen sprechen es bei Kirchen- oder Stadtführungen an. Es gibt Menschen, die selber Angehörige haben, die sich damals das Leben nahmen. Das Thema wurde jahrelang verdrängt und kommt oft mit Macht hoch“, weiß auch Pastorin Uta Voll. Es sei gut, zur Bewältigung des Traumas seelsorgliche Räume und Momente zu haben, findet sie. „Aber es darf eine Stadt nicht beherrschen.“ Sie ist seit zwei Jahren in der Kirchengemeinde Demmin II tätig. Für sie ist Demmin eine sehr liebenswerte Kleinstadt.