Die Palliativmedizin behandelt schwer kranke Menschen am Lebensende. Der Internist Ulf Sibelius ist einer der Mitbegründer der Palliativbewegung; er baute die Palliativmedizin an der Gießener Universitätsklinik auf und begleitete die Gründung des Gießener Hospizes. „Wir können über 90 Prozent unserer Patienten mit einer guten Therapie schmerzgestillt behandeln“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd).
epd: Wie hat sich Sterben in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Sibelius: Die Hospizbewegung hat es sich seit den 1980er Jahren zur Aufgabe gemacht, das Thema Tod wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken und den Menschen ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Die Palliativmedizin war eine Reaktion der Medizin auf Wünsche der Gesellschaft. Aus medizinischer Sicht stellte sich die Frage, worum geht es denn am Lebensende noch? Darum, dass man die Symptome lindert, einen Raum schafft für seelische und spirituelle Fragen. Für mich selbst war es damals auch ein Kulturschock: Ich bin in der Intensivmedizin und der Onkologie groß geworden. Ich musste erkennen, dass am Lebensende nicht mehr das CT, das MRT, die Operation wichtig sind, sondern eine gute Schmerzstillung und ein langes Gespräch.
epd: Warum gibt es trotzdem noch immer die Kritik, dass am Lebensende zu viel Intensivmedizin betrieben wird?
Sibelius: Die Palliativmedizin hat es nicht ganz einfach. Gerade die Onkologie ist ein Fach, in dem es Therapien bis zum Lebensende gibt.
epd: Aber greifen nicht auch die Patienten selber nach jedem Strohhalm?
Sibelius: Ja absolut, und berechtigterweise. Sie lesen, dass ein neues Medikament auf dem Markt ist, das soundsoviel Lebensverlängerung bringt und fragen sich, warum soll es nicht auch mich betreffen? Das ist auch ethisch so schwierig, weil diese Menschen noch eine Therapie bekommen, die mehrere tausend Euro im Monat kostet und von der keiner weiß, ob sie überhaupt hilfreich ist. In so einer Phase befinden wir uns jetzt. Irgendwann wird das nicht mehr bezahlbar sein, das glaube ich.
epd: Wie gehen Sie als Palliativmediziner damit um?
Sibelius: Man muss auch betonen, dass inzwischen viele Menschen zu uns kommen und sagen: Nee, das will ich alles nicht. Die Menschen haben eine klare Vorstellung, was sie wollen. Da gehen wir mit und beraten. Das ist die partizipierende Entscheidungsfindung.
epd: Leiden die Menschen am Lebensende unter Schmerzen?
Sibelius: Wir können über 90 Prozent unserer Patienten mit einer guten Therapie schmerzgestillt behandeln. Da braucht es keine Katheter ins Rückenmark. Wir können viel mit einer konsequenten Symptomkontrolle erreichen.
epd: Die meisten Menschen möchten zu Hause sterben, tun es dann aber doch oft im Krankenhaus oder im Pflegeheim…
Sibelius: Zumindest in unserem Bereich wird viel zu Hause gestorben. Aber wir sind da mittlerweile auch vorsichtig. Viele sagen: Ich möchte gern sterben, wie ich es mir vorstelle. Das kann bedeuten, dass ich eine Zeit lang zu Hause bleiben möchte, aber in der letzten Phase doch nicht. Das Zuhause-Sterben wird manchmal romantisiert. Es ist auch nicht immer möglich.
epd: Und das Sterben auf einer Palliativstation ist auch nicht so schlimm?
Sibelius: Nein, nein, wenn Sie sich die Zimmer anschauen: Es sieht aus wie in einem Drei-Sterne-Hotel. Ich glaube, dass der Begriff „Zuhause Sterben“ bedeutet: Bloß nicht auf der Intensivstation, wie man sich das vielleicht vorstellt, an Drähten, beatmet, mit Monitor.
epd: Gibt es viel Einsamkeit am Lebensende?
Sibelius: Nicht nur am Lebensende, das ist ja gesamtgesellschaftlich ein großes Thema. Aber vielleicht ist es so, dass diejenigen, die jetzt sterben, noch ein bisschen mehr Zuwendung haben. Sie sind noch gut eingebunden, auch in dörfliche Strukturen. Wenn man sieht, wie viel Besuch die Patienten bekommen … Das Problem der Einsamkeit, das jetzt schon in jungen Jahren stattfindet, wird möglicherweise irgendwann ins Alter getragen.
epd: Früher wurden vor allem Krebspatienten palliativmedizinisch behandelt. Ändert sich da etwas?
Sibelius: Wenn man sich die Statistiken über die zehn häufigsten Todesursachen anschaut, sind darunter gerade mal zwei onkologische. Auf der anderen Seite sind 90 Prozent der Patienten in der Palliativmedizin Krebspatienten. Das liegt auch daran, dass bei den anderen Patienten das Bewusstsein gar nicht vorhanden ist, dass man am Ende auch Palliativmedizin bekommen kann. Sie haben genauso oft Schmerzen oder Luftnot wie Krebspatienten. Aber das Bewusstsein ändert sich gerade, auch bei den behandelnden Ärzten, dass man noch palliativmedizinisch therapieren kann. Dann geht es vielleicht nicht mehr so oft ins Krankenhaus.
epd: Ist Sterbehilfe ein Thema?
Sibelius: Es kommt selten vor. Wenn wir Patienten haben, bei denen wir mit unseren Therapien das Leiden nicht lindern können, kann man es immer noch schaffen, sie so zu sedieren, dass sie das nicht mehr bei vollem Bewusstsein ertragen müssen. Das ist dann meistens in der letzten Lebensphase ein Thema.
epd: Das heißt, das Thema kommt auf der Palliativstation, bei den Menschen am Lebensende, gar nicht oft vor?
Sibelius: Man weiß aus Studien, dass 30 bis 40 Prozent der Onkologiepatienten immer wiederkehrende Todeswünsche haben. Vielleicht kann man genau das, was sich die meisten wünschen, nämlich nicht alleine sein und keine belastenden Symptome haben, mit Palliativmedizin erreichen.
epd: Sind also viele Ängste, die Menschen am Lebensende haben, heute unbegründet?
Sibelius: Was wir nicht beantworten können, ist die Frage nach dem Danach. In der Sterbephase habe ich Angst vor Luftnot, vor Schmerzen, aber auch davor, was mich erwartet. Früher hat uns die Religion geholfen. In einer säkularen Gesellschaft ist da niemand mehr, der mir sagen kann, was nach dem Tod kommt.