Von Silke Radosh-Hinder
An einem hellen Tag im April kam eine alte Dame aus der Ukraine in unser düsteres Büro, um nach Unterlagen für ihre Rente zu suchen. Sie war nach Ravensbrück gekommen, weil 1995 zum 50. Jahrestag der Befreiung alle noch lebenden ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Ravensbrück eingeladen worden waren, an den Gedenkfeiern teilzunehmen. Für viele von ihnen war es die erste Gelegenheit, noch einmal den Ort ihrer Verfolgung zu besuchen und dort auch Unterlagen für eine dringend benötigte Rente zu bekommen.Im Rahmen meines zweimonatigen Praktikums war es meine Aufgabe, Suchanfragen aufzunehmen, um Dokumente zu finden, die die Haft belegten. In den meisten Fällen ist es nahezu unmöglich, dies so nachzuweisen, dass es deutschen Behörden ausreicht. Darum fragte ich die alte Dame, ob sie sich noch an etwas erinnern könne. Sie fing an, mir von ihrem Kind zu erzählen, das im Lager gestorben war. Sie weinte, sie erzählte.Und ich? Die Enkelin deutscher Mittäter sitze in diesem Büro; zerrissen zwischen ihrer Geschichte und dem Wunsch, der Frau zu ihrer Rente zu verhelfen: „Und können Sie sich noch an Ihre Lagernummer erinnern?“, fragte ich. Den Blick der Frau werde ich nie vergessen: Sie erzählt mir von ihrem toten Kind und ich frage sie nach ihrer Nummer.
Immer wieder über das erlittene Leid sprechen
Das Aufschreiben der Geschichte der Frau und ihres Blickes ist Teil des Sinns von Erinnerung: Etwas bleibt als Leerstelle unserer Geschichte. Dort etwas offenzuhalten, wo nie wieder jemand so sein wird: Hier hätte jemand sein können. Ein anderes Beispiel für die Erinnerung und den Umgang mit ihr: Als Kreisjugendpfarrerin besuchte ich mit Jugendlichen die Gedenkstätte Ravensbrück. Bei minus 15 Grad krempeln sich drei Jugendliche die Hosenbeine hoch, um zu fühlen, wie das damals war für die Frauen in ihren viel zu dünnen, zerschlissenen Häftlingskleidern bei Minus zwanzig Grad. Die Erinnerung ist nicht vergangen: Die Folgen der Verfolgung wirken fort bis in unsere Gegenwart, in die Biografien der Kinder und Enkel. Die Erinnerung darf nicht sterben – so lautet folgerichtig der vehemente Appell vieler Überlebender, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, öffentlich immer wieder über das erlittene Leid zu sprechen in der Hoffnung, so die Erinnerung wach zu halten. Mit der Schlussfolgerung: Dann kann so etwas nicht wieder passieren. Der Hoffnung auf diesen Automatismus wohnt eine aufklärungstheoretisch Grundannahme inne: Wer sich bewusst macht, was geschehen ist, wird das Schlimme verhindern. Im Sinne dieser Hoffnung wohnt dem Erinnern automatisch ein moralisch richtiger Impetus inne.
Wissen macht niemanden zu einem besseren Menschen
Diese Hoffnung erweist sich aber nicht als Automatismus – insbesondere in einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Überlebenden mit dieser Aufgabe weitestgehend allein gelassen wurden. Erinnerung als solche führt zu keiner moralischen Besserung – das bloße Wissen um Verbrechen macht niemanden zu einem besseren Menschen. Pädagogen aus der Gedenkstätte Buchenwald berichten, dass die Strategie heutiger Nazis keineswegs mehr in der Leugnung der Erinnerung besteht, sondern die Überhöhung und eine Lernfähigkeit paradoxer, perverser Art erzeugt, nämlich: Wir machen es nächstes Mal noch besser mit der Vernichtung. Während ich Kind und Jugendliche in einer westdeutschen Kleinstadt war, stand die institutionelle Wissensvermittlung zum Nationalsozialismus noch am Anfang. Aber eins wussten wir immer: Meine Großeltern waren gegen Hitler, insbesondere die Großmütter waren potentielle Widerstandskämpferinnen, und wer in der NSDAP, SA oder SS war, war dazu gezwungen worden. So das sichere überzeugende Gefühl, in dem ich aufwuchs.
Weiterlesen