Lang ist es her: das Jahr 1989. Die Mahnwache vor der Gethsemanekirche: „Freiheit für die zu Unrecht Inhaftierten“. Am 5. Oktober Fürbittandacht in der überfüllten Kirche: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ – Das Bibelwort für jenen Tag.
Wir haben Freiheit erstritten. „WIR sind das Volk!“, riefen Frauen und Männer, die den Mut hatten, am 9. Oktober in Leipzig auf die Straße zu gehen.
Ich hatte Illusionen. „Deutsche Einheit“ – später. Erst einmal bei uns, in der DDR aufräumen. Demokratie lernen. Den Wunsch nach westlichem Lebensstandard zurückstellen. Die Wirtschaft ökologisch umbauen. Eine Ökonomie, die auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist und nicht auf Profitmaximierung.
Wir haben Demokratie gelernt
Es war eine Illusion: „Wir sind EIN Volk!“ – dieser Ruf war lauter. Sich von einer Illusion zu verabschieden, ist schmerzhaft. Aus einer Illusion zu erwachen, ist heilsam.
Wir haben Demokratie gelernt. Und wir erfahren: Demokratie ist anstrengend. Das Austarieren der vielfältigen Interessen und Ansprüche ist aufwändig. „Bewahrung der Schöpfung“ – für viele in der DDR ein Beweggrund zum Aufbegehren gegen ein System organisierter Verantwortungslosigkeit. Heute spüren wir, dass Programme gegen den Klimawandel nicht zum Nulltarif zu haben sind. Deshalb wird gestritten – zwischen den Parteien, in den Parlamenten, zwischen den Interessengruppen.
Neulich sagte mir K., ein alter Bekannter: „Die da oben, die Regierung, die Minister – alle unfähig, die müssen weg. Wir brauchen jemanden, der sagt, wo’s langgeht!“ Pegida und Reichsbürger lassen grüßen.

An K. komme ich nicht ran. Der ist gefangen in seiner Bilderbuch-Ideologie. Aber euch, die ihr solche Sprüche toll findet, weil sie „denen da oben“ Dampf machen, sage ich: Ihr spielt mit dem Feuer. „Denen da oben“ die Schuld zu geben an allem, was schiefläuft in unserem Land – das ist Untertanen-Mentalität. Wir sind Bürger. Wir tragen Verantwortung. WIR sind das Volk. Bringen wir uns ein in die Auseinandersetzungen in unserem Dorf, im Kiez, in unserem Land. Das ist anstrengend, mitunter frustrierend, manchmal lustvoll. Billiger ist Demokratie nicht zu haben.