Schon die Proben des Stücks zur Reichspogromnacht gingen Friedemann Neuhaus unter die Haut. „Es gibt einige Szenen, die mich tief berührt haben“, sagt der Osnabrücker Geschichtslehrer. So sage ein arabischstämmiger Junge: Ich bin ein Mensch. „Das hat mich tief getroffen.“
„Wer bin ich? Wer darf ich sein?“ heißt das mehrere Szenen umfassende Stück über Identität, Ausgrenzung und Verantwortung, das die Schüler des Osnabrücker Ratsgymnasiums selbst geschrieben haben und im Rahmen einer zentralen Gedenkfeier der Stadt Osnabrück zur Reichsprogromnacht in der Aula des Schlosses aufführen werden. Im Anschluss ist ein Gedenkgang mit einem Transparent mit der Aufschrift „Ich bin ein Mensch“ zum Mahnmal Alte Synagoge geplant.
Der “Osnabrücker Judenretter” hatte über Leben und Tod zu entscheiden
Im Zentrum steht der „Osnabrücker Judenretter“ Hans Georg Calmeyer, der als „Rassereferent“ vor mehr als 80 Jahren in den Niederlanden arbeitete und zu entscheiden hatte, wer aufgrund seiner Abstammung als „Jude“ eingestuft und deportiert werden musste, darunter Anne Frank. Calmeyer sei es jedoch gelungen, rund 3000 Menschen aufgrund von Zweifeln an ihrer Abstammung von der „Deportationsliste“ zu streichen, erklärt Neuhaus, darunter Anne Franks beste Freundin Jaqueline van Maarsen und die Schauspielerin Camilla Spira, von der das Stück ebenfalls handelt. „Calmeyer hat sich vermutlich ganz bewusst täuschen lassen.“
Zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsanwalt Calmeyer hatte Neuhaus seine ehemalige 11. Klasse im Geschichtsunterricht angeregt. Dabei seien fünf Gedenktafeln entstanden, die im Ratsgymnasiums ausgestellt sind und sowohl Schüler als auch Lehrer für Erinnerungskultur sensibilisieren sollen, erzählt der 58-jährige Lehrer. „Besonders die Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse waren enorm interessiert.“
Das Geschichtsprojekt habe weitere Projekte angestoßen, sagt Neuhaus. So hätten sich die Schüler des Fachs Darstellendes Spiel unter Leitung ihrer Lehrerin Stefanie Westphal mit Anne Frank befasst und in selbst verfassten Szenen Verbindungen zu ihrem eigenen Leben hergestellt. Auch das Schulorchester habe sich begeistern lassen und für die Aufführung Motive der Titelmelodie des Spielfilms „Schindlers Liste“ geprobt. „Am Ende stimmt es das hoffnungsfrohe ‚Somewhere‘ aus Leonard Bernsteins ‚West Side Story‘ an.“
“Stolperzaun” aus 1000 Stöcken erinnert an die Osnabrücker Juden
An der zentralen Gedenkfeier seien auch Schüler des Kunstprojekts aus dem Jahrgang neun bis zehn beteiligt, erzählt Neuhaus. Sie hätten einen „Stolperzaun“ aus rund 1000 weißen Stöcken gebaut, der an die Osnabrücker Juden erinnern soll, die Opfer der Pogromnacht und der Verfolgung während der Zeit des Nationalsozialismus geworden seien. Im Rahmen des Kunstprojekts seien auch Stoffbahnen blau eingefärbt und mit weißen Strichen versehen worden. Sie sollen an die im Jahr 1938 zerstörte Synagoge erinnern.
Seit 2001 gestalten Schulen auf Initiative des Osnabrücker „Büros für Friedenskultur“ den Gedenktag im Wechsel, darunter zum zweiten Mal das Ratsgymnasium, das auch Pate eines Stolpersteins ist. „Jedes Jahr am 27. Januar machen wir dort eine Putzaktion und stellen uns anschließend mit großen Nachbildungen der Stolpersteine in die Innenstadt“, sagt Neuhaus. Es gehe ihm dabei um Demokratiebildung und Sensibilisierung gegen Antisemitismus. „Die Schüler sollen lernen, wie schwer es ist, das Richtige zu tun.“ Es brauche ein ethisches Grundgerüst und eine bewusste Entscheidung, entweder offenen Widerstand zu leisten oder subtilen wie Calmeyer. „Diese Menschen sind Vorbilder für uns.“
