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Bücher über das NS-Regime haben Konjunktur

Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs reißt der Strom an neuen Büchern zur Zeit des Nationalsozialismus nicht ab. Die Gründe dafür sind nicht nur in der Beschäftigung mit der Vergangenheit zu suchen.

Biographien über führende Nationalsozialisten wie Hermann Göring, Erkundungen im ehemaligen Führerhauptquartier “Wolfsschanze” oder die letzten Zuckungen des NS-Regimes an der Flensburger Börde: In den Buchhandlungen der Republik liegen in diesen Tagen wieder vermehrt Neuveröffentlichungen zu Adolf Hitlers Drittem Reich aus. Und auch auf der Frankfurter Buchmesse wird daran mutmaßlich kein Mangel herrschen.

“Wie konnte das geschehen?” – das treibt nicht nur den Historiker und Publizisten Götz Aly um. “Warum begeisterten sich seit 1932/33 viele Zehnmillionen Deutsche für Adolf Hitler, der in allen Wahlkämpfen versprochen hatte, als Erstes die republikanische Verfassung zu zerstören?”, fragt Aly. “Warum kämpften Millionen deutsche Soldaten bis zum letzten Tag, obwohl ein Sieg längst unmöglich geworden war?” Und ganz zentral: Wie konnten sich so viele Menschen am Massenmord an den Juden und anderen Minderheiten beteiligen? Sein jüngstes Buch solle “zur Diskussion und zum weiteren Nachdenken anregen”, schreibt Aly. Wie so oft auch über einen persönlichen Zugang: diesmal steht dafür sein Vater Ernst Aly.

Mit einem persönlichen Einstieg beginnt auch Felix Bohr sein Buch “Vor dem Untergang” über Hitlers Jahre in der “Wolfsschanze”. Er schildert die Atmosphäre, die das einstige Führerhauptquartier, gelegen im Nordosten von Polen, heute ausstrahlt. Und kommt dann zu einer dichten und fesselnden Schilderung der klaustrophobischen Stimmung, die in den rund 50 Stahlbetonbunkern mit ihren teils sieben Meter dicken Wänden herrschte.

Während des Russlandfeldzugs wurde die “Wolfsschanze” ab 1941 zur Regierungszentrale. Hier fielen beispielsweise “zwischen Teestunden und Waldspaziergängen” Schlüsselentscheidungen zum Holocaust, der von den Nazis betriebenen Auslöschung der europäischen Juden. Zugleich hätten sich die NS-Spitzen von der Wirklichkeit des Krieges immer mehr entkoppelt, stellt Bohr fest. So pflegte der Diktator in der Regel erst gegen 11.00 Uhr aufzustehen. Das allein habe schon dazu geführt, dass dem NS-Regime oft entscheidende Stunden fehlten, “um angemessen auf die Herausforderungen eines globalen Krieges zu agieren”.

Für einen ans Bizarre grenzenden Realitätsverlust steht auch Hermann Göring, der “Erste Paladin des Führers”. Der Reichsmarschall zeigte sich alle paar Wochen im Hauptquartier. “Er kleidete sich wie ein Operettengeneral und erschien mitten im Winter in weißer Uniform und unförmigen violetten Lederstiefeln, die ihm bis über die Knie zu den fetten Oberschenkeln reichten”, erinnerte sich ein Zeitzeuge. Andreas Molitor versucht in seiner unlängst erschienenen Biographie “Macht und Exzess” unter anderem zu ergründen, warum der kalt und brutal agierende Göring im Volk trotzdem so beliebt war, dass Hitler bis fast zum Schluss an ihm festhielt.

Die turbulenten Tage von der deutschen Kapitulation am 8. Mai bis zum tatsächlichen Ende des NS-Regimes zeichnet Gerhard Paul in “Mai 1945: Das absurde Ende des ‘Dritten Reiches'” nach. Leider ist der Band schlecht lektoriert. Da wird beispielsweise das Verhalten des letzten Staatsoberhaupts Karl Dönitz gegenüber den Alliierten als “resistent” bezeichnet. “Renitent” hätte es wohl eher getroffen. Auch einige Wiederholungen stören den Lesefluss. Dafür beleuchtet Paul manche Aspekte, die in Überblicksdarstellungen ausgeblendet werden. Zum Beispiel die Tatsche, wie sehr der NS-Geist Dönitz und Co bis zu ihrer Verhaftung am 23. Mai 1945 – und darüber hinaus – prägte.

Einen souverän geschriebenen und gut fundierten Zugang zur Geschichte des NS-Regimes bietet der britische Historiker Richard J. Evans. In “Hitlers Komplizen” versammelt er 24 Porträts von Helfern und Vollstreckern. Nachdenklich stimmt etwa der Umgang mit Ilse Koch, der “Kommandeuse” des KZ Buchenwald, und Irma Grese, Aufseherin im KZ Bergen-Belsen. Beide waren zweifellos Täterinnen. In den Medien wurden sie allerdings als besonders sadistisch und pervers an den Pranger gestellt. Ihre männlichen Pendants kamen meist glimpflicher davon. Und anders als das Bild, das von Koch und Grese gezeichnet wurde, bedurfte es keiner tiefsitzenden psychopathischen Persönlichkeitsstörung, damit eine gewöhnliche Frau zur Mörderin wurde, wie Evans festhält.

Wie kam es, dass normale Menschen monströse Untaten begingen? Diese und andere Fragen haben laut Evans in der Gegenwart an Dringlichkeit gewonnen. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wachse in vielen Ländern der Druck auf demokratische Institutionen. “Sogenannte starke Männer und Möchtegerndiktatoren” machten sich “häufig mit starker öffentlicher Unterstützung” daran, die Medien zu knebeln, die Justiz zu kontrollieren oder die Opposition zu unterstützen. Eine Beschäftigung mit dem NS-Regime biete sich an, um daraus “vielleicht einige Lehren für unsere eigene unruhige Zeit zu gewinnen”.