Vor 80 Jahren begannen die Nürnberger Prozesse. Der Hauptangeklagte: Hitlers Nummer zwei, Hermann Göring. Eine neue Biografie zeigt ihn als skrupellosen Machtmenschen und Antisemiten.
Sein Appetit auf Macht, Prestige und Posten war nicht zu stillen. Hermann Göring (1893-1946) war ein radikaler Antisemit, ein skrupelloser Mann, der bereit war, über Leichen zu gehen.
Trotzdem halten sich über die Nummer zwei in der Riege der Nazi-Größen bis heute Mythen. Göring als erfolgreicher Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, das joviale Gesicht des Nationalsozialismus, der feiste Operettenmarschall und Morphinist. Göring, der nichts gegen die Juden hatte und vielleicht auch gar kein richtiger Nazi war.
Andreas Molitor hat solches Raunen lange auch in seiner eigenen Familie gehört. Rechtzeitig zum 80. Jahrestag des Beginns der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher im November, in denen Göring der Hauptangeklagte war, hat der Journalist am Freitag eine Biografie des Mannes vorgelegt, der sich selber als “letzten Renaissance-Menschen” charakterisierte, ein bizarres Luxusleben führte, Titel sammelte und Kunstwerke stahl wie andere Menschen Briefmarken.
Molitors Ziel: Die verharmlosenden Mythen und Klischees über Göring aufzubrechen. Und nachzuvollziehen, wie aus dem seelisch vernachlässigten und immer wieder zu fremden Leuten abgeschobenen Fürther Privatschüler der fanatische Kriegstreiber und schließlich der zu keiner Emotion fähige Leitwolf der Kriegsverbrecher auf der Nürnberger Anklagebank wurde, der sich schließlich in der Gefängniszelle selbst vergiftete.
Göring war preußischer Ministerpräsident, Reichsmarschall, Reichsjägermeister und Reichsforstmeister, Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Ab 1936/1937 übernahm er die Führung der deutschen Wirtschaft. In der Riege der NS-Größen war er laut Autor der einzige, der Hitler hätte ersetzen können. “Er war intelligent, wandlungsfähig, brutal, machtgierig, kommunikationsstark und volksnah”, schreibt er in der gut zu lesenden Biografie.
Molitor beschreibt ein nahezu symbiotisches Verhältnis zwischen Göring und Hitler, die sich 1922 zum ersten Mal begegneten. Göring habe sich dem “Führer” bedingungslos verschrieben; als Hitler ihm im Verlauf des Krieges seine Gunst entzog, sank Görings Stern. Zugleich aber hätte der Diktator, so vermutet der Autor, seinen Aufstieg nie ohne Göring geschafft. Er habe Hitler Anfang der 30er Jahre bei den konservativen Eliten in Deutschland salonfähig gemacht.
Ausführlich befasst sich Molitor mit Görings Rolle beim Holocaust und zählt ihn zu den Architekten des bürokratisch organisierten Massenmords. “Hitler muss Göring den Judenhass nicht beibringen”, betont der Autor. Schon nach der Weltkriegsniederlage 1918 habe der letzte Kommandeur des legendären Richthofen-Geschwaders die Legende von den jüdischen Vaterlandsverrätern verbreitet. “Wo immer in Görings Texten von Juden die Rede ist, stehen sie für Verrat und Zersetzung.”
Molitor betont, dass Göring dabei – im Unterschied zu Goebbels oder Himmler – seine eigene Agenda verfolgt habe: Ihm sei es vor allem um die “Entjudung der deutschen Wirtschaft” und die Nutzung jüdischen Eigentums für die Finanzierung des Krieges gegangen. “Das Spielfeld seiner Judenpolitik sind nicht Judenstern, Deportationen in Viehwaggons, Gaskammern und Verbrennungsöfen. Das werden Himmler, Heydrich und Eichmann später besorgen.”
Als Hauptverantwortlicher für die wirtschaftliche Kriegsvorbereitung habe sich Göring primär dafür interessiert, dem Staat Fabriken und Geld einzuverleiben. Molitor zitiert in diesem Zusammenhang Görings kritische Bewertung der Novemberpogrome von 1938, bei der hunderte Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und zahlreiche Juden ermordet wurden: “Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und nicht solche Werte vernichtet.”
Ausführlich befasst sich Molitor auch mit Görings Verhalten als Hauptangeklagter vor dem Nürnberger Tribunal. Ein Foto zeigt, wie die Nazi-Größe die Hand vor die Augen hält, als die Ankläger Filme aus den befreiten Konzentrationslagern zeigen. Göring habe in Nürnberg immer wieder versucht, seinen Konkurrenten um Macht und Hitlers Gunst die Schuld zuzuschreiben. “Ach, diese Massenmorde”, sagte er scheinbar gleichgültig zu dem amerikanischen Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert. “Das Ganze ist eine verdammte Schande! Ich möchte lieber nicht darüber sprechen oder auch nur daran denken!”