“Nicht mehr zeitgemäß” ist im Architekturbetrieb ein gefährliches Label. Der kurzlebige “Jugendstil” des frühen 20. Jahrhunderts, heute wieder hoch im Kurs, wurde lange als verzopft verachtet – und vielerorts abgerissen.
In der belgischen Hauptstadtregion Brüssel hat ein und dasselbe Ding immer mehrere Namen: “Maison du Peuple” – “Volkshuis” – “Haus des Volkes”. Gemeinsam ist allen dreien: Sie waren ein Meisterwerk des Jugendstils – und wurden rücksichtslos abgerissen.
Ende des 19. Jahrhunderts machten sich überall in Europa intellektuelle Neuerer auf, jenseits der traditionellen Formensprache eine “Kunst für alle” zu schaffen. Junge Künstler wurden beauftragt, moderne Viertel, Warenhäuser und öffentliche Gebäude zu schaffen. In Brüssel hieß der kreativste Kopf dieser “Jugendstil”-Bewegung Victor Horta (1861-1947).
Zwischen dem vornehmen Sablon-Viertel und den kleinbürgerlichen Marollen in der Unterstadt sollte der damals 35-jährige Jungstar-Architekt die Zentrale der Sozialistischen Partei Belgiens errichten. Ein Großauftrag mit nicht kleinen Schwierigkeiten. Denn das Baugrundstück lag an einem runden Platz – heute benannt nach dem Vorsitzenden der Zweiten Internationale, Emile Vandervelde (1866-1938); es war von der Oberstadt her abschüssig und sozusagen links abbiegend.
Die Grundsteinlegung 1896 erfolgte bereits, während Horta noch intensiv an den Bauplänen tüftelte. Und es gelang ihm auch, die Probleme des Baugrunds schlüssig in den Griff zu bekommen. Hortas vierstöckiges “Volkshaus”, eingeweiht vor 125 Jahren, am 2. April 1899, in Anwesenheit von Frankreichs Sozialistenführer Jean Jaures, war von maximaler Funktionalität.
Als erstes Gebäude in Brüssel war die geschwungene Fassade komplett aus Eisen und Glas konstruiert. Im Erdgeschoss waren Geschäfte und ein Cafe-Restaurant angesiedelt, im ersten Stock die eigentliche Parteizentrale. Der zweite und dritte Stock enthielt Mehrzweckräume, und im Obergeschoss der große Konzert- und Versammlungssaal für 2.000 Menschen: ein Traum von Licht und Großzügigkeit.
Obwohl nicht weniger als 600 Tonnen Stahl verbaut wurden: Eine lange Lebensdauer war der “Maison du Peuple” nicht vergönnt. Die 1950er und 60er Jahre waren ein Zeitalter der richtig großen Bausünden. Brüssel hatte große Pläne, war mit dem Sitz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und EURATOM nun Hauptstadt Europas – zumindest der europäischen Institutionen. Die erste große Weltausstellung nach dem Zweiten Weltkrieg war 1958 eine tolle Visitenkarte; das Schaufenster einer schönen neuen Welt mit noch un-fassbaren Zukunftsvisionen.
Im Brüsseler Stadtzentrum hinterließ die Expo tiefe Spuren. Bulldozer durchpflügten die Altstadt, schlugen breite Breschen für als zeitgemäß empfundene Schnellstraßen aus Beton. “Brüsselisierung” wurde seit den 60er Jahren ein internationales Schimpfwort für städtebauliche Vergewaltigung.
Auch das “Haus des Volkes” wurde 1965 abgerissen und ein seelenloses Hochhaus, der 26-stöckige “Blaton Tower”, unorganisch auf dieselbe Stelle gepfropft. Schon damals galt diese Zerstörung als ein Kulturverbrechen und das Betonmonster seither als eines der hässlichsten Gebäude der Stadt – was etwas heißen will. Rund 700 Architekten weltweit protestierten gegen den Abriss.
Zwar wurde noch versucht, Gestaltungsteile von Hortas Architekturtempel zu retten. Doch sie verrotteten über die Jahre unter freiem Himmel auf einem Gelände in der Brüsseler Gemeinde Jette. Ein Schrotthändler bediente sich dann Anfang der 80er Jahre und verhökerte Tonnen von Stahlteilen nach Japan, wo sie eingeschmolzen wurden.