Kommen Sie mit in mein Büro hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt in Herford. Derzeit verbüßen hier gut 200 junge Männer im Alter zwischen 14 und 24 Jahren ihre Haftstrafe. Mein erster Weg führt mich zu meinem Postfach mit den Anträgen der Inhaftierten auf ein Einzelgespräch. Dem Außenstehenden stellt sich vielleicht die Frage: Was kann ein Seelsorger, eine Seelsorgerin im Gespräch erreichen, wenn es so weit gekommen ist? Und auch ich stelle meinem Gegenüber nicht selten die Frage: Wer hätte Sie aufhalten können? – Niemand! , so fast immer die Antwort.
Eine große
Entlastung
Die Erwartungshaltung an uns „Profis“ hinter den Mauern ist riesengroß: Die jungen Männer bessern, dass sie zukünftig ein straffreies Leben führen können, heißt es. Die Realität ist zu oft eine andere. Die Rückfallquote liegt zwischen 30 und 40 Prozent, vielleicht auch höher. Für mich, wie vermutlich für viele andere auch, stellt sie die Frage: Wie gehe ich damit um, dass ich in meinem Leben an einer Stelle stehe, wo ich allein wenig bis gar nichts ausrichten kann?
Und so empfinde ich es als eine große Entlastung, dass Paulus an die Korinther schreibt: „… als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit“. Kein Besserwisser, kein Querdenken, kein Schlaumeier und auch kein Experte! Unbeschreiblich in mir die Erleichterung, dass da selbst in der Bibel niemand vor mir steht, der die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben scheint: „… und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit …“
Bereits von Anfang an, also seit gut acht Jahren, begleitet mich hier in der JVA ein Zitat, dessen Ursprung ich leider nicht mehr weiß. Es beschreibt das, was ich hier für die jungen Männer sein will. Darin schreibt eine Frau über ihre Erfahrungen mit einem Seelsorger. „Ich wünsche mir einen Anderen (Seelsorger, Ergänzung des Verfassers), von dem ich sicher sein kann, dass er mir unendlich lange zuhört, damit ich so lange reden kann, bis ich selber weiß, was los ist.“ Dieses Zitat beschreibt das, was Paulus auch meinen könnte: „auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“
Mit Gottes Kraft in unserer rationalen Welt zu rechnen, ist schon schwierig. Mit seiner Kraft zu rechnen als einer Kraft, die mir als Christ nicht frei verfügbar ist, macht es noch einmal viel schwieriger. Wie viele selbst ernannte Propheten haben wir gerade in dieser Pandemiezeit bereits erlebt, die es besser zu wissen glauben. Wie viele geben vor, von Gottes Kraft und Wahrheit in dieser Welt zu sprechen, und meinen doch nur ihre eigene. Es ist schon schwer auszuhalten, wenn Paulus „von der Weisheit Gottes“ spricht, „die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit“. Und dennoch Gottes Wirken in dieser Welt zu vertrauen, das ist in meinen Augen das große Anliegen, von dem Paulus den Korinthern damals schreibt. Und es ist aktueller denn je.
Am Ende weiß ich nicht, was die jungen Männer aus den Gesprächen mit mir mitnehmen. Aber ich werde sie auch weiter reden lassen – so lange, damit sie selbst irgendwann verstehen, was mit ihnen los ist. Und ich werde weiter darauf vertrauen, dass ich es nicht allein schaffen muss. Und, dass Gott mir die Kraft gibt, dies so und nicht anders auszuhalten.
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Bitte keine Besserwisser!
Andacht über den Predigttext zum 2. Sonntag nach Epiphanias: 1. Korinther 2, 1-10

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