Drama um einen ungarischen Abiturienten, der bei der Prüfung versagt und die Schuld auf seinen Lehrer schiebt, der ihn wegen seiner konservativen Weltanschauung durchfallen habe lassen.
Eigentlich wollte Judit ihrem Gast nur einen Kaffee anbieten. Doch bevor der Geschichtslehrer ihres Sohns Abel das Heißgetränk in Händen hält, ist die Gastfreundschaft im Hause Trem in offene Feindseligkeit umgeschlagen. Judit steht hilflos mit dem Tablett in der Hand im Flur und muss mit anhören, wie ihr Mann György den Lehrer Jakab anbrüllt, ihn einen verdammten linken Hund nennt, der Ungarn ohnehin nur am Boden sehen wolle.
Jakab ist kaum überrascht: Was habe er von einem gehirngewaschenen Orban-Anhänger schon anderes zu erwarten. Der Lehrer zieht seine Schuhe an und geht. Den Sohn Abel, mit dem Jakab eigentlich sprechen wollte, trifft der Geschichtslehrer an diesem Tag nicht mehr. Überhaupt wird er ihn bis zu dessen Nachhol-Prüfung nicht mehr sehen.
Abel hat die mündliche Abschlussprüfung nicht bestanden. Aber darum geht es längst nicht mehr. Plötzlich geht es um die Eckdaten der ungarischen Geschichte, um kleine Anstecker der ungarischen Nationalflagge, und überhaupt darum, wer Patriot ist und wer das Land in den Ruin gestürzt hat.
Abels Scheitern bei der Prüfung ist zum Zeitpunkt des Streits längst zum Politikum geworden, das der Film “Eine Erklärung für Alles” von Gabor Reisz aus allen nur denkbaren Perspektiven einkreist. Da sind die direkt Beteiligten Abel und Jakab, Abels Vater György und dessen Vertraute, die gewissermaßen die zweite Reihe derer bilden, die den Konflikt gerne politisieren möchten, die Journalistin Erika, die die Angelegenheit mit ein bisschen Sensationslust zum landesweit beachteten Skandal hochschreibt und dann eben noch diejenigen, die zwischen denen stehen, die sich nun anbrüllen und sich Verräter nennen.
Die Zuschauer aber kennen die Wahrheit, die im Skandal längst keine Rolle mehr spielt. Denn Familie Trem hat Unrecht. Abel hat seine Prüfung nicht vergeigt, weil seinem linken Geschichtslehrer der Ungarn-Anstecker missfällt; er hat schlichtweg kein Wort herausbekommen. Denn Abel hat keinen Bock aufs Lernen. So sitzt er, als die Prüfung beginnt, stumm vor den Prüfern und bekommt weder zur Industriellen Revolution noch zu Julius Caesar einen Satz heraus.
Dass der Geschichtslehrer ihn am Ende der Prüfung nach dem Anstecker fragt, der den nationalistischen Fidesz-Anhängern als Erkennungszeichen dient, ist die letzte Ausrede, die dem Jungen bleibt. Der Lehrer habe ihm keine Chance geben wollen, weil er ihn für einen Nationalisten halte, erzählt er später dem Vater.
Der Vater aber erzählt es dem gleichgesinnten Arzt, der erzählt es dem Taxifahrer und der erzählt es der Journalistin Erika, die sich die Sache wenig später noch einmal von Abel selbst erzählen lässt. Die Lüge, so unschuldig sie auch angefangen haben mag, wird nun zum Politikum, das die Karriere des Lehrers zerstört und das genau dort eine Trennlinie zieht, wo jene, die von derartigen politischen Grabenkämpfen profitieren, sie gerne hätten.
Dass “Eine Erklärung für Alles” den Frontverlauf gleich zu Beginn klärt, gibt dem Film Raum für die Erkundung der Umstände. Der Film zieht elegant Kreise um die gesellschaftliche Eskalationsspirale, um die Eckdaten der Geschichte, die Ungarische Revolution, die Staatsgründung und den Volksaufstand, die man sich von links und rechts gegenseitig an den Kopf wirft. Gabor Reisz beschreibt ein System, das sich davon nährt, dass Widerspruch und Verachtung gleichgesetzt werden.
Abel und sein Vater sind im Unrecht. Und doch sind sie nicht die Fidesz-Wähler mit Schaum vorm Mund. Sie sind vielmehr der überforderte Sohn und der Vater, der zu viel fordert, seinen Sohn aber in den Momenten, in denen er selbst versteht, dass er zu viel Druck ausübt, in die Arme schließt. Jeder schützt, was er liebt, und jeder geht auf seine Art und Weise zu weit. Der Film stemmt sich aus all seinen Perspektiven gegen den Hass und gegen die Eskalationsspirale, die sie hervorbringen.
Dabei ist “Eine Erklärung für Alles” eben nicht naiver Relativismus. Denn nur eine Seite, nur Abel und György, sind im Unrecht. Die Wahrheit lässt eben auch keine Mittelposition zu. Die Tragödie konstruiert Reisz eben nicht aus dem Unrecht, das dem Lehrer Jakab geschieht, nicht aus der harmlosen Lüge, die ein folgenschwerer Skandal wird, sondern über die Idee, dass gute Menschen schlechte Ansichten haben. Niemand sollte sie dafür hassen, aber jemand muss ihnen widersprechen.