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Biden würdigt Jimmy Carter: Moralisches Vorbild für die Nation

Fünf Präsidenten und andere Würdenträger: Bei der Trauerfeier für Ex-US-Präsident Jimmy Carter in der National Cathedral hielt der amtierende Präsident Joe Biden die Trauerrede – mit einer Botschaft an seinen Nachfolger.

Auf dem Weg zurück von der Kanzel in der National Cathedral, fuhr Joe Biden (81) sanft über das Sternenbanner auf dem Sarg seines Freundes. Ein letzter Gruß an Jimmy Carter, den 39. Präsidenten der Vereinigten Staaten, der im Alter von 100 Jahren gestorben war. “Charakter, Charakter, Charakter”, würdigte der amtierende Präsident den Erdnussfarmer aus Georgia, der sein ganzes Leben in den Dienst Amerikas gestellt habe. Getragen von einem unbeugsamen Glauben, den der Baptist bis zum Schluss als Lehrer in der Sonntagsschule seiner Gemeinde in Plains mit anderen geteilt hatte.

Doch unverkennbar richtete Biden seine Worte auch an einen anderen Präsidenten, der in weniger als zwei Wochen ins Weiße Haus zurückkehren wird: Donald Trump (78), der in der zweiten Reihe zusammen mit Ehefrau Melania direkt neben Barack Obama sowie den ehemaligen Präsidenten und First Ladys George W. und Laura Bush und Bill und Hillary Clinton Platz genommen hatte. Michelle Obama fehlte, weil sie eine vorherige Verpflichtung in Hawaii hatte.

Vielleicht als Geste des guten Willens trug Trump eine blaue Krawatte in der Parteifarbe der Demokraten und redete angeregt mit Obama. Er blickte etwas zerknirscht vor sich hin, als Biden in der Elegie darüber sprach, wie Charakter das Schicksal prägt – das eigene wie das der Nation. Der scheidende Amtsinhaber nutzte in seiner Trauerrede, um die ihn Carter zu Lebzeiten gebeten hatte, die Gelegenheit, seinem Nachfolger deutliche Worte mit auf den Weg zu geben.

“Charakter schlägt Macht. Würde, Respekt und Chancen für alle müssen unser Handeln bestimmen, nicht Angst, Egoismus und Hass”, mahnte Biden eindringlich in Richtung Trump, der mit versteinerter Miene zuhörte.

Besonders bewegend war die vorbereitete Trauerrede von Carters ehemaligem Rivalen und späterem Freund Gerald Ford, die dessen Sohn Steven vortrug. “Durch Fügung des Schicksals waren Jimmy Carter und ich Rivalen, aber in den vielen wunderbaren Jahren danach verband uns eine Freundschaft, wie sie seit John Adams und Thomas Jefferson keine zwei Präsidenten mehr hatten.” Ford, der mehr als ein Jahrzehnt vor Carter starb, schloss mit den Worten: “Was mich betrifft, Jimmy, freue ich mich auf unser Wiedersehen. Wir haben viel nachzuholen.”

Die Würdigung durch Carters Enkel Jason und seinen langjährigen Berater Stuart Eizenstat zeichnete das Bild eines Präsidenten, der seiner Zeit oft voraus war – als weißer Südstaatler, der sich für Bürgerrechte einsetzte, als dekorierter Marineveteran, der Frieden stiftete, als brillanter Nuklearingenieur, der sich für Abrüstung starkmachte.

Die einwöchigen Trauerfeierlichkeiten hatten in Atlanta begonnen und erreichten in der Nationalkathedrale ihren Höhepunkt. Dan Balz von der Washington Post erkannte in den Ritualen “einen Moment der nationalen Reflexion in einer Zeit der Spaltung”. Die Anwesenheit aller lebenden Präsidenten, die in wenigen Tagen bei Trumps Amtseinführung wieder zusammenkommen werden, verlieh der Zeremonie besondere Bedeutung.

Nach dem Gottesdienst wurde Carters Sarg ein letztes Mal mit militärischen Ehren zum Flughafen Andrews geleitet. Eine Präsidentenmaschine brachte ihn in seine Heimat Georgia zurück. In Plains, wo alles begann, fand Jimmy Carter im Kreis seiner Familie seine letzte Ruhe – auf seiner Ranch neben seiner geliebten Frau Rosalynn, mit der er 77 Jahre verheiratet war. Er hinterlässt das Vermächtnis eines Mannes, der durch Glauben, Charakter und lebenslangen Dienst an der Menschheit zu einem moralischen Vorbild der Nation wurde.