Ramsau am Dachstein: Als Wintersportort weltbekannt. Ein traumhaftes Alpenpanorama, das auch in der ZDF-Samstagabendserie „Die Bergretter“ eine Hauptrolle spielt. Dennoch ist Ramsau ein fast paradiesisch anmutendes kleines Dorf im Westen der Steiermark geblieben. Besonders im Sommerhalbjahr, wenn im Ort und auf dem gleichnamigen Hochplateau nicht ganz so viel touristischer Betrieb herrscht wie im Winter.
Von Geheimprotestanten und verbotenen Treffen
Natürlich sind die Zeiten längst vorbei, als das Sträßchen aus Schladming herauf nur einspurig und nur von neun bis zehn Uhr morgens für die Bergfahrt freigegeben war. Doch auch heute kann man hier Ruhe und Beschaulichkeit finden und die Chance, oft stundenlang zu wandern, ohne auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen.
Von paradiesischen Zuständen war in Ramsau in den Zeiten nach der Reformation wenig zu spüren. Vor allem für evangelische Christen, die hier eines ihrer Zentren hatten. Der Blick von der Dorfmitte aus geht nach oben. In ein steiles, schwer zugängliches Waldstück. Hier trafen sich früher „Geheimprotestanten“ – um Predigten zu hören, um gemeinsam zu beten und zu singen. Eine versteckte, distanzierte Lage mit bester Aussicht. Ganz bewusst so gewählt, dass man näherkommende Häscher rechtzeitig entdecken und die Flucht ergreifen konnte.
„Unser Ort war schon damals ein protestantischer Hotspot“, sagt Heinz Prugger. Der ehemalige Geschäftsführer des Ramsauer Tourismusverbands ist kompetenter Ansprechpartner, wenn es um die aktuelle Gemeindeentwicklung, aber auch um den historischen Werdegang der evangelischen Kirche in Ramsau geht.
Auch hier waren überfallartige Hausdurchsuchungen an der Tagesordnung. Also wurden die Bauern bei der Auswahl der Verstecke immer geschickter. Gut verschlossene Fässer im See, Hohlräume unter den Brettern der Futterkrippe einer störrischen Kuh, das Heu in der Scheune, Doppelböden, Doppelwände, ausgehöhlte Balken und unzählige andere Verstecke wurden für die kostbaren Bücher benutzt. Dennoch fielen sie immer wieder in die Hände der Visitatoren.
So waren die Bücherschmuggler im Dauereinsatz, um für Nachschub aus Deutschland zu sorgen. Auch für sie war das Risiko, erwischt zu werden, enorm. Die meisten verdienten sich mit dem Schmuggel ihren Lebensunterhalt. Gerade junge Handwerksgesellen reizte das Abenteuer und das schnelle Geld.
Der Wanderer des 21. Jahrhunderts befindet sich auf einer Tagesetappe des Bibelschmugglerwegs, der als „Weg des Buches“ schon 2008 von der Evangelischen Kirche in Österreich eröffnet wurde. Er folgt auf 600 Kilometern den Spuren von Bibelschmugglern und Geheimprotestanten von Ortenburg an der bayerischen Grenze über das Salzkammergut, den Dachstein, die Kärntner Nockberge bis zum Dreiländereck Österreich/Italien/Slowenien – und seit drei Jahren auch weiter bis nach Triest.
Die ersten 210 Kilometer sind als vier Rad-Etappen angedacht, dann geht es per Pedes vom österreichischen Traunsee in mehr als 20 Tagesetappen über die Berge, entlang kristallklarer Gebirgsbäche, vorbei am höchsten Wasserfall der Steiermark, an die Ufer einiger der schönsten Gebirgsseen Österreichs und durch unberührte Landschaften wie den Klafferkessel. Unterwegs gibt es viel Interessantes aus der Geschichte der Bibel- und Bücherschmuggler zu erfahren und versteckte Höhlen und andere verborgene Plätze zu entdecken, die in der Zeit des Geheimprotestantismus als Treffpunkte dienten.
Die Bibel selber lesen? Das war im 16. Jahrhundert unglaublich, unerlaubt, revolutionär. Dank Martin Luthers Bibelübersetzung lernten auch in Österreich viele Menschen überhaupt erst lesen und wurden Protestanten – sehr zum Missfallen der katholischen Obrigkeit. Seit dem Augsburger Reichstag von 1530 hatte die katholische Kirche im Einklang mit den damaligen Herrschern versucht, dem Protestantismus in Österreich den Garaus zu machen. Wer nicht wieder katholisch werden wollte, musste seinen Glauben also im Geheimen praktizieren.
Lutherische Bibeln, Gebets- und Gesangbücher sowie evangelische Literatur waren verboten. Wenn man diese Bücher bei jemandem fand, wurden sie beschlagnahmt und verbrannt. Außerdem wurden die Abtrünnigen und Widerspenstigen zur Emigration gezwungen. Man nahm ihnen die Kinder weg, um sie katholischen Familien zur Erziehung zu übergeben.
So begann der Bibel- und Bücherschmuggel. Auf abenteuerlichen Wegen und unter der Gefahr, erwischt und schwer bestraft zu werden, wurden Bibeln nach Österreich auch in entlegene Bergtäler gebracht. Dorthin, wo sich der protestantische Glaube am stärksten hielt.
Ramsau ist evangelisch. Schladming katholisch. So war es immer und so ist es nach wie vor. Natürlich wird auch hier die Ökumene gepflegt – aber „Sticheleien“, über die man heute schmunzeln darf, gibt’s immer noch. „Kennt’s ihr den Unterschied zwischen evangelischen und katholischen Krapfen?“, fragt Heinz Hartweger am Frühstückstisch die Gäste seines im nahen Ennstal gelegenen Hotels – und hat natürlich die Erklärung sofort parat: Auf dem sonnendurchfluteten Hochplateau der Ramsau gedieh immer schon der Weizen, unten in Schladming nur der Roggen.
Teuflisch gute katholische Krapfen
Folglich sind die evangelischen Krapfen bis heute aus Weizenmehl, schmecken mit süßer Marmelade oder auch mit steirischem Hartkäse. Die katholischen Krapfen sind dagegen aus Roggenmehl und werden in heißem Schweineschmalz frittiert. „Teuflisch gut“, sagt Heinz Hartweger spitzbübisch. „Aber sie liegen mindestens drei Tage schwer im Magen.“