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Besuch im “Hexendorf”: Wo Frauen und Kinder ums Überleben kämpfen

In einem abgelegenen Dorf in Ghana, leben Frauen, die als Hexen verstoßen wurden. Ordensschwestern unterstützen sie mit Bildung, Wasser und Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Eine Frau arbeitet in einem Dorf in Ghana (Archivbild)
Eine Frau arbeitet in einem Dorf in Ghana (Archivbild)Imago / Depositphotos

Ihr Dorf ist auf keiner Landkarte verzeichnet und schwer erreichbar. In der Regenzeit gelangt man nur mit einem Geländewagen oder einem einstündigen Fußmarsch über einen ausgewaschenen Trampelpfad in das “Camp der alten Frauen” – ein kleines Rinnsal wird dort selbst nach kurzen Regenfällen zu einem hüfthohen Bach. In dem Dorf mit Lehmhütten zwischen Maisfeldern und Sojaplantagen leben rund 90 Frauen und eine Handvoll Kinder. Die Frauen sind nicht freiwillig hier: Sie alle wurden als Hexen beschuldigt und aus ihren Dörfern vertrieben.

In der ländlichen Region im Norden von Ghana spielen traditionelle Religionen noch eine große Rolle – und der Glaube an Hexen ist allgegenwärtig. Und auch weltweit steigen die Zahlen: Laut dem Historiker Werner Tschacher wurden seit 1960 mindestens 55.000 Menschen wegen angeblicher Hexerei getötet – mehr als während der Zeit der neuzeitlichen Hexenprozesse in Europa. Auch betrifft diese Art von Menschenrechtsverletzung nach Angaben des Hilfswerks missio Aachen immer mehr Länder, nämlich 46, zu denen neuerdings etwa auch Niger zählt. Dennoch ist das Problem zu wenig bekannt, mahnt Tschacher.

Hexerei: Eifersucht und Missgunst als Auslöser für Anklagen

Werden Frauen der Hexerei bezichtigt, haben sie und ihre Familie keine Chance, sich zu wehren. Ihnen bleibt nur die Flucht. Eifersucht und Missgunst sind meist die Gründe für die Anklage: Oft sind es die zweiten Frauen in einer polygamen Ehe, die auf diese Art eine Konkurrentin loswerden wollen.

So auch bei Salamatu Nanle: Als jemand in der Familie schwer erkrankte, soll sie schuld gewesen sein. “Die Männer und Frauen aus dem Dorf schlugen auf mich ein, obwohl sie wussten, dass ich schwanger war.” Sie floh vor gut zwölf Jahren, das Baby kam im Camp zur Welt: Heute steht ihr Sohn Joshua neben ihr. Er hat in seinem Leben nichts anderes gesehen als dieses Dorf der verstoßenen Frauen.

Versuche der Regierung, Frauen zurück in ihre Dörfer zu bringen, sind größtenteils gescheitert. Mit den Bewohnern des Ortes Gushiegu gibt es kaum Probleme. Angst vor der angeblichen Hexenkraft scheint niemand zu haben, denn dieser gelte – so der Glaube – nur im Heimatdorf.

Ordensschwestern bringen Hilfe und Hoffnung ins “Hexendorf”

Schon allein, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, helfen sich die Verstoßenen gegenseitig. Gleiches Schicksal verbindet: Die Jüngeren unterstützen die Alten und Kranken, auch wenn niemand ein geregeltes Einkommen hat. Einige versuchen, den Farmern in der Umgebung bei der Ernte zu helfen, sammeln Feuerholz zum Verkauf auf dem Markt oder kehren nach Marktschluss heruntergefallene Körner und Samen mit Besen vom Erdboden ein und reinigen sie zu Hause. Was sie selbst nicht essen, verkaufen sie in kleinen Tüten wieder auf dem Markt.

Trotz allem wird in dem Dorf auch gelacht. Zu einem nicht unerheblichen Teil liegt das an den energiegeladenen Ordensschwestern der Kongregation “Missionsschwestern der Ärmsten der Armen”, die auch heute trotz heftiger Regenfälle zu Besuch sind. Mit ihrem Geländewagen haben sie vier Säcke Mais mitgebracht, die unter lautem Gesang verteilt werden. Seit 2012 widmen sie ihre Arbeit den Frauen und Kindern im Camp, haben extra außerhalb der Stadt Gushiegu ihren Konvent in der Nähe des Dorfes gebaut. A2018 gibt es auf ihrem Areal “Maryland” eine Grundschule.

Kind, das mit Eimer und Seil Wasser aus einem Tiefbrunnen schöpft,

Seit die Schwestern hier leben, wurde im Camp ein Tiefbrunnen gebohrt, der die Frauen mit frischem Wasser versorgt und sogar die Bauern von den Feldern der Umgebung zu einem Besuch einlädt. Einige Solarlampen spenden nach Sonnenuntergang etwas Licht; durch ein Hilfsprojekt wurden drei Steinbaracken gebaut. Herzensprojekt der Schwestern ist aber die Bildung der hier lebenden Kinder. Schwester Ruphina ist sich sicher: “Die Kinder können der Stigmatisierung auf Dauer nur entgehen, wenn sie einen Schulabschluss haben. An einer Universität fragt dich niemand, woher Du kommst.”

“Hexenkinder” sind normale Jungen und Mädchen

Am nächsten Morgen beginnt die Schule mit einem Morgenappell im Hof. Die Kinder stehen in Schuluniform wie Orgelpfeifen aufgereiht, klatschen und singen. Auch Joshua ist dabei. Eine halbe Stunde Fußmarsch liegt hinter ihm – und am Fluss musste er seine Uniform ausziehen, denn das Wasser reichte dem Zwölfjährigen bis zum Gürtel.

Joshua kommt gerne zur Schule und hat hier neben Rechnen auch schon sehr gut Englisch gelernt. In seiner Klasse sind die Kinder bunt gemischt – aus dem Camp der Frauen und aus der Stadt Gushiegu. Dass die Schwestern einen guten Unterricht anbieten, hat sich herumgesprochen. “Die Eltern aus der Stadt zahlen eine kleine Schulgebühr – damit finanzieren wir die Lehrerinnen”, erklärt Schwester Ruphina.

Und die Kinder aus dem Ort merken, dass die “Hexenkinder” normale Jungen und Mädchen sind wie sie selbst: Spielend lernen sie Toleranz. Auch drei von Albinismus betroffene Kinder gehören ganz selbstverständlich zu den Schulkindern. Die Schwestern haben die Mädchen im Konvent aufgenommen, weil “Albinos” in der schwarzafrikanischen Bevölkerung bis heute extrem gefährdet sind: Als teuflisch stigmatisiert, werden sie häufig verfolgt und bedroht.

Neues Schulgebäude soll Weiterbildung für Camp-Kinder schaffen

Nach dem regulären Unterricht bleiben viele Kinder freiwillig in Maryland, um Fußball zu spielen oder in Kursen Nähen zu lernen. Schwester Ruphina sitzt lächelnd daneben. “Gerade die Kinder aus dem Camp sind so wissbegierig und lerneifrig”, sagt sie. Und doch wirkt die Leiterin des Konvents nachdenklich: “Zur Zeit können wir den Kindern eine Schulbildung bis zum Abschluss der Grundschule bieten, doch danach finden wir keine Möglichkeit der Weiterbildung für sie.”

In Gushiegu ist an den Schulen kein Platz für sie – noch nicht. Deshalb werden die Ordensschwestern ihr Schulangebot wortwörtlich ausbauen – ein neues Gebäude ist in Planung, das katholische Hilfswerk Missio unterstützt sie bei dem Bau. Denn nach einem anerkannten Schulabschluss könnten die Kinder auch in anderen Städten eine Ausbildung finden, sagt die Ordensschwester: “Und niemand fragt sie dann, woher sie kommen.”

Joshua hat schon Zukunftspläne, er will später zum Militär. “Ich möchte Soldat werden”, sagt der Junge. “Dann kann ich die Frauen im Camp vor Angriffen beschützen.”