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Bald wärmt „Püppi“ wieder ihre Füße

Elisabeth Bolle fühlt sich wohl im Hospiz St. Franziskus in Recklinghausen. Hier wird sie rundum so versorgt, dass sie keine unnötigen Schmerzen leiden muss. Regelmäßig kommt ihre Tochter Anja zu Besuch

Die vorletzte Geschichte in unserer siebenteiligen Serie mit persön­lichen Geschichten zu den sieben letzten Worten Jesu ist eine zu „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lukas 23,46).

Sie schläft viel. Aber nicht jetzt. Interesse gepaart mit ungewisser Erwartung spricht aus ihren offenen Augen. Hellwach und freundlich-zugewandt blickt sie durch die Brille auf den angekündigten Besucher. Der betritt mit nicht weniger gemischten Gefühlen soeben den wohlig temperierten lichten Lebensraum von Elisabeth Bolle im „Hospiz zum heiligen Franziskus“ in Recklinghausen.
Sonnenlicht strahlt an diesem kalt-schönen Rosenmontagnachmittag fernab allen lärmend-bunten karnevalistischen Treibens an Rhein und Ruhr durch die großen Glasflächen von Bodenfenster und Terrassentür. Es zaubert hellen Glanz auf ihr sehr gepflegtes feines weißes Haar. Weich sind ihre Gesichtszüge und die wenigen Falten in der sonst zartglatten Gesichtshaut der in Dorsten-Hervest geborenen 84-Jährigen.
Sie sieht gut aus, wie sie so friedlich daliegt unter der blütenweißen Bettdecke ihres fahrbaren Hochbetts, die es so auch in Krankenhäusern gibt. Sie wirkt frisch. Und irgendwie recht munter. Was sich bald bestätigt, als die Sprache auf ihren Geburtstag kommt, den sie hier feiern konnte.
„Am 16. Januar war das. Das war sehr schön“, erzählt sie mit leuchten­den Augen. Weil sie nicht aufstehen, geschweige denn laufen konnte, habe man sie zum gemeinsamen Kaffeetrinken rausgeschoben in das von allen Hospizbewohnern und Gästen gemeinsam genutzte Wohnzimmer und danach wieder zurück. Geburtstagslieder, dazu alkoholfreier Sekt und  der selbst gebackene Kuchen ihrer Tochter Anja sowie der Besuch – darunter ihr Seelsorger Ulrich Radke, von der Landeskirche seit 2005 als Hospizpfarrer freigestellt von anderen Aufgaben –, machten den Tag für sie zum ganz besonderen Erlebnis.
Nur „Püppi“, das vor Jahren erst wenige Wochen alte zugekaufte Familienmitglied, war – anders als sonst oft bei den regelmäßigen Besuchen ihrer Tochter – nicht mit von der Partie. Ein Foto im Eckregal verrät: Püppi ist eine kleine Malteser-Hundedame.
Wenn Elisabeth Bolle so erzählt, lässt das für den Moment vergessen, dass sie an einer unheilbaren Darmkrebserkrankung leidet. Dass sie ihr Bett allenfalls kurz und nur in Begleitung verlassen kann. Dass sie die starken, übermächtigen Schmerzen nur deshalb nicht spürt, weil ihrem Körper über einen Tropf an der Haltestange ihres Bettes beständig schmerzbetäubende Mittel zugeführt werden. Oder sie bekommt Spritzen. Palliative Versorgung, abgeleitet von „palliare“ (lateinisch: mit einem Mantel bedecken) nennt sich, was Schwerstkranken und Sterbenden wie ihr unnötiges Leiden erspart.

Ihr Glaube ist ihr großer Trost

Medizinisch gut ummantelt, liebevoll umsorgt von Krankenschwestern, Pflegekräften und Hospizdienst um Pfarrer Radke, im Kirchenkreis Recklinghausen zuständigt für die stationäre wie ambulante Hospizarbeit, trägt das ruhige Umfeld sichtlich bei zum Wohlbefinden der betagten Dame in ihrem hellen 24-Quadratmeter-Privatreich. Ihr Zimmer – ebenso weitere zehn und das für Angehörige oder Besucher, die etwas länger bleiben – liegt ebenerdig mit Zugang zu einer kleinen Terrasse und ist ausgestattet mit einer behindertengerechten Nasszelle mit Dusche und WC.
Seit dem 17. August vergangenen Jahres ist das Elisabeth Bolles neues Zuhause, ausgewiesen durch das Namensschild im Flur neben der Tür. Nach vielen Jahren im eigenen Haus in Marl, in dem sie seit 1994 nur noch zusammen mit ihrer Tochter lebte, führte sie ihr letzter Umzug in den im Januar 2014 in Betrieb genommenen zweigeschossigen Atriumneubau in der Feldstraße.
Das Haus ist nahe dem heute anders genutzten Vorgängerbau an der Röntgenstraße um die Ecke, der mit seiner Eröffnung im August 1987 als bundesweit erste stationäre Einrichtung für im Fachjargon „austherapierte“ Menschen deutsche Hospizgeschichte geschrieben hat. Palliativmedizinisch versorgt können sie heute in bundesweit flächendeckend über 200 Hospizen in Würde ihren Lebensweg zu Ende gehen.
Auch Elisabeth Bolle ist hier auf dem letzten Stück ihres langen Lebens. Sie hat sich damit abgefunden. Ohne Selbstmitleid erzählt sie, wie es dazu gekommen ist: „Ich hatte was mit dem Darm. Mit Schmerzen im Bauch hat das angefangen. Aber als ich das gemerkt habe, war es schon viel zu spät – Darmkrebs hieß es am 16. Februar 2016, Anjas Geburtstag.“ Am Ende musste der Darm operativ entfernt und ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. Überdies musste sie auch noch eine Brustamputation über sich ergehen lassen.
Dazwischen zuhause allein mit ihrer Tochter, die im Tagesschichtdienst im Marler Marien-Hospital arbeitet, dazu das Haus mit großem Garten – das jetzt verkauft werden soll –, war am Ende klar: Das geht so nicht mehr. Als ihr behandelnder Arzt dann das katholische Hospiz ins Spiel brachte, dessen Bedeutung sie bis dahin gar nicht kannte, wie sie erzählt, stand ihr Entschluss schnell unumstößlich fest, da hinzugehen. Auch wenn das die Trennung von ihrer Tochter bedeutete, die sich so gut um alles kümmert.
„Elisabeth, sei vernünftig. Es ist das Beste. Da bist du versorgt“, habe sie zu sich gesagt und nicht lange überlegt. „Und dann bin ich auch sofort, als ich hörte, dass ein Zimmer frei ist, ein oder zwei Tage später hierhergekommen. Und, was soll ich sagen, ich hatte kein Verlangen mehr nach Hause, nix. Alles war gut. Ich bin zufrieden, bin mit mir im Reinen, lasse alles auf mich zukommen.“
Ihr Glaube hilft der als Kind streng katholisch erzogenen Frau dabei. „Das ist mein großer Trost“, freut sie sich immer schon sehr auf den Sonntag, wenn die Diakone wieder ins Haus kommen, um Gottesdienst zu feiern. Der wird dann via Fernseher auch in ihr Zimmer übertragen. „Dann beten wir zusammen, machen alles mit. Ich find‘ das gut.“
Das war sehr lange nicht so. Da mied sie jeden Kontakt zur Kirche, lässt sie an ihrer Lebensgeschichte teilhaben: Nach Schulbesuch und dreijähriger Ausbildung zur Feinkost-Fachverkäuferin übt sie ihren Beruf in den frühen Nachkriegsjahren zehn Jahre aus. Ab 1958, nachdem sie erst krank und dann arbeitslos wird, nicht mehr. Zwischenzeitlich – 1953, mit gerade mal 19 Jahren – hat sie geheiratet. 1963 wird in Marl Sohn Gerd geboren und sechs Jahre später, 1969, Tochter Anja. 1986 geschieht dann das, was der kleinen Familie abrupt den Boden unter den Füßen wegreißt: Gerd verunglückt mit dem Motorrad. Tödlich. – Elisabeth Bolle hält inne. „Das ist schon lange her. Aber das sagt man so: lange her. Das werde ich nie vergessen. Nie. Das bleibt.“
Dass er so jung, mit erst 22 Jahren sterben musste, unterscheidet seinen Tod so grundlegend von dem ihres geliebten Mannes 1992, der Schwiegermutter 1994, ihres Bruders 2003 und ihres späteren Lebensgefährten 2010, mit dem sie seit 2005 zusammen war. Der gläubigen Frau ist es noch sehr viele Jahre nach dieser schweren Zeit unmöglich, in der Kirche Seelenfrieden zu finden: „Als das mit Gerd passiert ist, da habe ich an nichts mehr geglaubt. An nichts mehr. Wenn der Pastor kam, was sollte der sagen? Trösten konnte der mich auch nicht.“
Die Wende kommt erst Jahrzehnte später, als sie mit ihrer verwitweten, deutlich jüngeren Nachbarin übereinkommt, zusammen Bus-Kurztrips zu machen: Bayern, Österreich, Schwarzwald, Toskana… „Und da sind wir am Urlaubsort dann auch in die Kirche gegangen. So kam das wieder, dass ich da wieder hingehen konnte und mich hinknien.“ Ihre Augen leuchten: „Eine schöne Zeit.“
Reisen kann Elisabeth Bolle nun nicht mehr. Aber vielleicht noch ein Konzert des Werks-Chors Hüls besuchen. Zu Weihnachten war ihr das verwehrt, obwohl alles vorbereitet war und sie sich darauf „riesig gefreut“ hatte. Doch just da erkrankte sie schwer – der Unterleib. Sie konnte nicht sitzen, musste sich übergeben.
Aber Elisabeth Bolle lässt sich nicht unterkriegen: „Was soll ich weinen. Ist nun mal so. Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Und dann ist da ja auch noch ihre Anja mit Püppi, die im Mai 17 Lenze zählt und ihr bald wieder auf einer Extradecke wärmend zu Füßen liegt. „Ach, das hab ich immer so gerne“, freut sie sich schon.
Die gemischten Gefühle? Dahin.