Heute sind Nadia Tabibzada (17) und Sina Bomm (17) die christlichen Geistlichen. Andere aus dem Religionskurs der 12. Klasse am Hamburger Kurt Körber Gymnasium übernehmen die Rollen islamischer Geistlicher, Menschenrechtler oder Polizisten. Zur Diskussion steht die Frage, ob Folter moralisch gerechtfertigt ist, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können. Hatten die Jugendlichen anfangs mit Klebepunkten für „Ja“ gestimmt, sieht es jetzt anders aus. Im Laufe der Stunde haben sie die UN-Konventionen gegen Folter, Abschnitte aus der Bibel und dem Koran gelesen. „Es ist sehr gut, unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen“, sagt Schülerin Nadia in der Pause.
Das sieht auch Sina so: „Ich bin ein großer Fan vom Religionsunterricht, weil er so vielfältig ist.“ Ihre Lehrerin Anne Raguse lächelt. Manche Schüler kennt sie seit der 7. Klasse. Anfangs musste sich die Religionslehrerin vereinzelt gegen Provokationen wehren, etwa dass sie als Christin nicht über den Islam reden dürfe. Ein typisches Grenzen-Austesten. Dennoch: „Es gibt viele Nuancen und Fallstricke, die man beachten muss“, sagt Raguse.
Interkultureller Religionsunterricht fördert respektvollen Dialog
Besonders wichtig sind ihr das Vertrauen und Interesse, das die Schülerinnen und Schüler mitbringen. „Ohne Vertrauen und Respekt ist ja kein Dialog möglich“, sagt die Pädagogin. In ihrem Kurs vermittelt sie Verbindendes und Grundsätze verschiedener Religionen, möchte Missverständnisse und Vorurteile abbauen. „Die Jugendlichen sollen für sich einen ethischen Kompass entwickeln.“ Dafür brauche es unterschiedliche Perspektiven.
Seit 2019 bietet Hamburg „Religionsunterricht für alle“ an, der von vielen Religionen gemeinsam gestaltet wird. „Ein bundesweit einzigartiges Modell“, sagt Jochen Bauer, Fachreferent Religion in der Schulbehörde. Verschiedene Religionen würden gleichberechtigt gelehrt. Damit werde berücksichtigt, dass Kinder aus vielen unterschiedlichen Glaubenstraditionen in den Schulen sind – wie im Kurt Körber Gymnasium in Hamburg-Billstedt, wo rund 80 Prozent der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben.
Pädagogen im Religionsunterricht: Lernen ohne religiösen Zwang
Für das Modell haben alle Religionsgemeinschaften auf ihr grundgesetzliches Recht verzichtet, getrennten Religionsunterricht anzubieten. Heute übernehmen evangelische, katholische, muslimische, jüdische oder alevitische Lehrkräfte die Stunden. „Es sind keine Geistlichen, alle haben Lehramt studiert“, betont Bauer. Für ihn ist der „Religionsunterricht für alle“ ein Erfolgsmodell: „Obwohl sich von der 1. bis zur 6. Klasse jedes Kind abmelden kann, machen dies weniger als ein Prozent.“

Ab Jahrgang 7 gebe es das Alternativfach Philosophie, knapp die Hälfte eines Schülerjahrgangs wählt trotzdem Religion. Insgesamt nehmen pro Schuljahr etwa 130.000 Schülerinnen und Schüler am „Religionsunterricht für alle“ teil, schätzt die Behörde. Das Kennenlernen der eigenen und anderer Religionen ist für den Fachreferenten Bauer ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem friedlichen Miteinander. „Um radikalen Strömungen aus Social Media etwas entgegenzusetzen, braucht es religiöse Bildung“, sagt er.
Vielfalt der Glaubensrichtungen im Religionsunterricht erleben
Nicht zuletzt gehe es darum, sich gegenseitig schätzen zu lernen, findet der Schulleiter des Kurt Körber Gymnasiums, Christian Lenz: „Wir müssen miteinander reden, um das Verständnis zu fördern.“ Manchmal gebe es Kinder aus acht verschiedenen Glaubensrichtungen in der Klasse. „Keiner sollte übergangen werden.“ Gelernt werde dabei auch, die eigene Religion zu reflektieren. „Ich möchte, dass die Schülerinnen und Schüler ein aufgeklärtes Verhältnis zu ihrer Religion und ethischen Fragen entwickeln“, sagt Lenz.
Dieses Hinterfragen findet auch die Zwölftklässlerin Tehzeeb Yasini wichtig: Bei Konflikten auf TikTok oder bei Online-Diskussionen würden oft pauschal „die Anderen“ beschuldigt. „Jeder glaubt, dass nur seine Religion die Wahrheit ist“, sagt die muslimische 18-Jährige. Dabei gibt es so viele Ähnlichkeiten. Ohne den Religionskurs hätte sie sich wohl eher nicht mit christlichen Werten beschäftigt. Yasini: „Wenn wir mehr voneinander wissen, gehen wir doch empathischer miteinander um.“
