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“Ausmerzen und unschädlich machen”

Über Jahrzehnte hinweg war das evangelische Hochstift-Krankenhaus für viele Menschen in Worms die erste Adresse, wenn es ihnen gesundheitlich nicht gut ging. Dass es sich bei dem 2018 endgültig geschlossenen Klinikum ursprünglich um eine jüdische Privatklinik handelte, war in der Stadt kaum noch bekannt. Der Historiker Hartmut Ritzheimer hat nach umfangreichen Recherchen erstmals detailliert nachgezeichnet, wie das Krankenhaus unter Druck der NS-Behörden den Besitzer wechselte und die sogenannte Arisierung in Worms ablief.

„Es war eine Zwangslage, eine Form von struktureller Gewalt“, urteilt Ritzheimer über die damaligen Vorgänge. Eine Gruppe angsehener jüdischer Mediziner um Albert Greif hatte die Privatklinik in den 1920er Jahren gegründet und gemeinsam mit dem Jüdischen Verein für Krankenpflege betrieben, dem das Inventar gehörte. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begannen in Worms wie im restlichen Deutschen Reich die Boykottaufrufe gegen jüdische Ärzte. Und schon im April 1933 verloren alle Ärzte „nicht arischer Abstammung“ ihre Kassenzulassung – und damit ihre wirtschaftliche Existenz.

In Worms stellten die Nationalsozialisten Posten vor den Praxen der jüdischen Ärzte und der Klinik auf, die die Mediziner systematisch bedrohten und einschüchterten, wie Alfred Lewin, einer der leitenden Ärzte der Wormser Klinik, später berichtete. Die Entrechtung der zuvor angesehenen Klinikbetreiber geschah auch unter breiter Zustimmung von Berufskollegen. Der Historiker Ritzheimer zitiert aus einem Hetzartikel eines regimetreuen Wormser Mediziners, der 1933 im Nachrichtenblatt des Ärztebundes erschienen war: „Jetzt geht es an die weißen Juden unseres Standes. Diese aus unseren Reihen auszumerzen und sie unschädlich zu machen, ist höchste Pflicht jedes anständigen deutschen Arztes.“

Die Kinder des bereits 1930 verstorbenen Klinikgründers Greif fanden einen Interessenten für das bereits leerstehende Krankenhaus, der die Räumlichkeiten 1933 mietete und einige Jahre später erwarb und schon kurz darauf an den Hessischen Diakonieverein weiterverkaufte. Der vereinbarte Kaufpreis in Höhe von 25.000 Reichsmark für Grundstück und Gebäude lag Ritzheimers Recherchen zufolge weit unter dem tatsächlichen Wert. Allein der Einheitswert für Haus und Teile des Geländes habe schon bei knapp 40.000 Reichsmark gelegen.

Im Wesentlichen sei die Vorgeschichte des Krankenhauses bereits bekannt gewesen, sagt Martin Zentgraf vom Vorstand des Hessischen Diakonievereins. Tatsächlich ging bereits eine Festschrift zu dessen 100-jährigen Bestehen von 2006 auch auf die Gründung des Hochstift-Krankenhauses ein. Dabei blieben die jüdischen Gründer und der Jüdische Verein für Krankenpflege jedoch eine Randnotiz. „Nach der Machtübernahme durch Hitler musste der Verein seine Tätigkeit einstellen, die meisten jüdischen Ärzte verließen die Stadt, die Klinik stand leer“, heißt es lapidar in dem Text.

Hartmut Ritzheimer versuchte hingegen auch zu klären, wie es mit den aus Worms vertriebenen Ärzten und mit den Greif-Erben weiterging. Einigen gelang die Auswanderung nach Palästina oder in die USA, einer der leitenden Ärzte wurde nach Estland deportiert, wo er umkam. Die Kinder des Klinikgründers erhielten selbst den niedrigen Kaufpreis für das Wormser Krankenhaus niemals ausgezahlt. Bei ihrer erzwungenen Auswanderung nach Amerika blieb der Erlös stattdessen auf einem Treuhandkonto im Deutschen Reich zurück. Eine Entschädigung dafür bekamen die Erben nie, offenbar auch deshalb, weil sie bei ersten Entschädigungsanträgen nach Kriegsende nicht gut beraten wurden.

Dass die Not der Wormser Juden Anfang der 1930er Jahre ausgenutzt wurde, steht für den Historiker Ritzheimer außer Frage. Von Tätern mag er im Zusammenhang mit der Arisierung der jüdischen Klinik dennoch nicht sprechen. „Das alltägliche Verhalten vieler Nutznießer, nicht Täter, hat elementar dazu beigetragen, dass der Nationalsozialismus funktionieren konnte“, lautet sein Fazit.