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Ausmaß von Missbrauch in evangelischer Kirche größer als angenommen

Auch in der evangelischen Kirche sind Kinder und Jugendliche in großem Ausmaß Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Eine am Donnerstag in Hannover veröffentlichte Studie hat mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter ermittelt, wobei längst nicht alle relevanten Akten angesehen wurden. Die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegebene Untersuchung gibt auch Auskunft darüber, welche Eigenheiten der evangelischen Kirche Missbrauch und dessen Vertuschung begünstigt haben und dazu führte, dass Opfer nicht die Unterstützung erhielten, die sie gebraucht hätten.

Was die Fallzahlen betrifft, sprachen die Forscher von „der Spitze der Spitze des Eisbergs“. Eingesehen wurden demnach flächendeckend zwar Disziplinar-, nur bei einer von 20 Landeskirchen aber auch Personalakten. Der an der Studie beteiligte forensische Psychiater Harald Dreßing kritisierte eine „schleppende Zuarbeit“ aus den 20 Landeskirchen. In einer von ihm als „sehr spekulativ“ bezeichneten Hochrechnung ergebe sich eine Zahl von mehr als 9.000 Betroffenen bei geschätzt rund 3.500 Beschuldigten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.

Die sogenannte ForuM-Studie bescheinigt der evangelischen Kirche spezielle Risikofaktoren, räumt aber mit dem Gedanken auf, dass die sich auf spezielle Bereiche wie die bereits umfangreich aufgearbeitete frühere Heimerziehung oder liberale Sexualitätsdiskurse der 1970er Jahre eingrenzen lassen. In nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche habe man eine Vielzahl von Fällen nachweisen können, konstatieren die Forscher. Als besonderen Risikofaktor machen sie das Machtgefälle zwischen Beschuldigten und Betroffenen aus, beispielsweise im Verhältnis zwischen Pfarrern – meist waren die Täter Männer – und Konfirmanden.

Eklatante Defizite erkennt die Studie beim Umgang mit Betroffenen. Forschungsleiter Martin Wazlawik sagte, der evangelische Föderalismus führe dazu, dass mit Betroffenen in den Landeskirchen unterschiedlich umgegangen werde. Er sprach zudem von „Verantwortungsdiffusion“ und bescheinigte der evangelischen Kirche „Konfliktunfähigkeit“ und einen „Harmoniezwang“, die Aufklärung im Weg stünden. Er empfahl verbindliche Interventionsverfahren und eine einheitliche Ombudsstelle für Betroffene. Die im Beirat des Forschungsverbunds beteiligten Betroffenen drangen darauf, die zentrale Ansprechstelle schnell einzurichten.

Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sprach von einem „eklatanten Versagen“ in Kirche und Diakonie. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, mit den Studienergebnissen sei es Gewissheit, dass auch in evangelischen Pfarrhäusern, Gemeinden und diakonischen Einrichtungen vielerorts Bedingungen geherrscht hätten, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigten.

Der Religionssoziologe Detlef Pollack sagte mit Blick auf die Ergebnisse, die evangelische Kirche stehe nicht besser da als die katholische. Lange Zeit war der Blick eher auf die katholische Kirche gerichtet, die bereits 2018 eine Studie zu Ausmaß von Missbrauch durch Kleriker vorgelegt hatte. Wegen der unterschiedlichen Grundlage und Methodik sind die Studien kaum vergleichbar.

Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus forderte, Kirche und Diakonie dürften nicht länger die Verantwortung für die Taten und die Aufarbeitung in komplizierten Strukturen unkenntlich machen. Sie äußerte die Hoffnung, dass die Erkenntnisse dazu beitragen, Aufdeckung und Aufarbeitung zu professionalisieren. Zudem forderte sie einheitliche Regelungen für Entschädigungszahlungen. Darum wird unter den Landeskirchen noch gerungen.

Auch aus der Politik kamen Forderungen nach Konsequenzen. Die evangelische Kirche müsse ihren Umgang mit Betroffenen sowie Täterinnen und Tätern weiter reformieren, erklärten die Grünen-Bundestagsabgeordneten Lamya Kaddor und Denise Loop. Zugleich würdigten Religionspolitiker den Aufklärungswillen der Kirchen. „So viel Kritik die Kirchen auch berechtigterweise einstecken müssen, so richtig ist es, dass sie auch mit den schmerzlichen Erfahrungen der Aufarbeitung Vorreiter gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen sind“, sagte der SPD-Politiker Lars Castellucci.