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Aufbruch in Foto, Form und Farbe

Mit der Gabriele Münter Retrospektive treffen Direktorin Ute Stuffer und ihr Team ins Schwarze. Nie war die Künstlerin so aktuell wie heute: Mehrere Einzelausstellungen während der letzten Jahre in Madrid, in Paris, Wien und gerade im Guggenheim Museum in New York ehren die Künstlerin, eine der bedeutendsten des deutschen Expressionismus. In zwei Jahren wird anlässlich ihres 150. Geburtstags ein internationales Gedenkjahr für Münter ausgerufen, unter Schirmherrschaft der Unesco.

Gabriele Münter (1877-1962) wurde bislang vor allem als Mitglied der Künstlergruppe des Blauen Reiters bekannt. Die beiden Ausstellungen des Kunstmuseums Ravensburg eröffnen nun zusätzliche Zugänge und neue Welten. Bevor Münter zur Malerin wurde, reiste sie 1899, gemeinsam mit ihrer Schwester Emmy, zu Verwandten in die USA. Auf der zweijährigen Reise entdeckte sie die Fotografie. Ab ihrem 21. Geburtstag mit einer eigenen Boxkamera ausgestattet, einer Kodak Bull’s Eye No. 2, erlebte sie das neue Medium – und die Menschen aus ungewohnten Perspektiven. Auch die Fotografierten waren noch nicht allzu vertraut damit, abgelichtet zu werden.

Gesichtet und neu interpretiert hat Kathrin Sonntag, geboren 1981 in Berlin, das fotografische Werk Münters. Zunächst für das Museum Marta Herford in Nordrhein-Westfalen, jetzt für das Kunstmuseum Ravensburg. Schon im Foyer lässt sich eine filmische Zusammenschau betrachten, wie unter der Lupe sind Details aus Münters Fotografien zu sehen. Solchermaßen eingestimmt steigen die Besucher in den 1. Stock, wo sie von einer großformatigen rot dominierten Fotografie Sonntags empfangen werden. Darin eingeklinkt eine kleine Schwarz-Weiß-Fotografie Münters. Gezeigt wird jeweils ein Paar, das ähnlich posiert, über ein Jahrhundert liegt zwischen den beiden Aufnahmen.

So wird der erste Stock von Foto-Paaren oder -Gruppen eingenommen: „Das reisende Auge“ ist diese Ausstellung überschrieben. Sonntag hat ausschließlich Fotos aus ihrem reichen Fundus ausgewählt, die sie aus den unterschiedlichsten Gründen passend fand. „Es sind Bilder, die ich nie geplant hatte auszustellen“, sagt sie beim Rundgang. „Echobilder“, also Bilder, die ein subjektives Echo in ihr auslösten. Mal konnte es die gleiche Pose sein, ein ähnlicher Hintergrund, eine Stimmung oder ein Detail. Damit lädt sie die Besucher ein, selbst neue Sichtweisen zu entdecken.

Gabriele Münter hatte ihre Fotografien zeitlebens weder ausgestellt noch kommentiert. Spannend dennoch dieses Vorwerk, das bereits den genauen Blick und den Sinn für die Bildgestaltung zeigt. Damit geht es in den zweiten Stock, zu Münters Malerei: „Aufbruch in Form und Farbe“ lautet der Titel, der nun doppelte Bedeutung gewinnt. Denn die Fotografie war um 1900 selbstredend noch Schwarz-Weiß. Nun also die Farbe, die im Expressionismus frei eingesetzt wurde. Es gab blaue Pferde, wie von Franz Marc oder von Wassily Kandinsky, die gemeinsam mit Gabriele Münter den „Blauen Reiter“ gründeten. Der Schnee konnte rosa oder gelb leuchten, wie Münters Winterbilder zeigen. Formen wurden reduziert, Motive angeschnitten.

Bekanntester Ausstellungsort für Werke der Künstlergruppe ist heute das Lenbachhaus in München, das ebenso direkt mit Gabriele Münter verbunden ist. Sie konnte in ihrem Wohnhaus in Murnau, bereits zwischen 1908 und 1914 ihr beliebtester Malort, Werke der Kollegen über den Zweiten Weltkrieg retten – und sie im hohen Alter dem Lenbachhaus vermachen. Von ihrer bewegten Lebensgeschichte, ihrer Verbindung mit Kandinsky und den gemeinsamen Reisen erzählen die Bilder und Begleittexte. Ebenso von der Exilzeit in Schweden während des Ersten Weltkriegs, von Brüchen und häufigem Neubeginn.

Die Künstlerin hatte ein breites Stilrepertoire, nach dem Zweiten Weltkrieg greift sie frühere Kompositionen wieder auf. 1950 nahm sie an der Biennale in Venedig teil und 1955 als eine der wenigen Frauen an der ersten documenta in Kassel. Lange Zeit fanden vorwiegend Münters Arbeiten aus der Zeit des Blauen Reiters Beachtung. Hier in Ravensburg lässt sich nun ihr vielfältiges Werk neu entdecken, bei der ersten Einzelausstellung nach 20 Jahren in Baden-Württemberg. (2996/21.11.2025)