Von der amerikanischen Historikerin Gerda Lerner (1920-2013) stammt der Satz „Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat“. 2018 ist ein Jahr, in dem es sich besonders lohnt, in die Geschichte zu blicken: Vor (erst) 100 Jahren wurde das Frauenwahlrecht eingeführt! Am 30. November 1918 trat in Deutschland das Reichswahlgesetz mit dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht in Kraft.
Am 19. Januar 1919 konnten Frauen in Deutschland zum ersten Mal reichsweit wählen und gewählt werden, denn es fanden allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt. 300 Frauen kandidierten, 37 Frauen – insgesamt gab es 423 Abgeordnete – wurden nach Angaben der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung schließlich gewählt (Quelle: https://www.lpb-bw.de/12_november.html#c5351).
Zum Frauenwahlrecht war es ein langer Weg, noch länger als für Männer. Auch Männer mussten für ihr Wahlrecht kämpfen, denn lange Zeit galt das Dreiklassenwahlrecht. Das Dreiklassenwahlrecht im Preußischen Landtag war eine spezielle Form des Zensuswahlrechts, bei dem die Wähler (Männer) abhängig von ihrer Steuerleistung in drei Klassen, mit unterschiedlichem Stimmengewicht eingeteilt wurden. Es blieb bis zum Ende der Monarchie 1918 in Kraft.
19. Januar 1919: Erster Urnengang
Es gab jahrzehntelange Kämpfe um politische Gleichberechtigung, bis in Deutschland Frauen am 19. Januar 1919 zum ersten Mal den Reichstag mitwählen und ihr aktives und passives Stimmrecht ausüben konnten. In diese Zeit fiel die 1848er Revolution, die Industrialisierung, die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungsschichten, der Erste Weltkrieg.
Das sind gesellschaftliche und politische Bedingungen, die für uns heute kaum vorstellbar sind. Umso wichtiger ist es, daran zu erinnern, dass Generationen von Frauen dafür gekämpft haben und den Grundstein für Gleichberechtigung gelegt haben.
Was kann man aus diesem politischen Prozess lernen? Welche Bedeutung hat das Wahlrecht für Frauen heute? – Mit diesen und weiteren Aspekten befasst sich das sehr lesenswerte Buch „100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht! …und weiter?“ von Isabel Rohner und Rebecca Beerheide (Herausgeber). Es enthält Beiträge von Frauen mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen und Schwerpunktsetzungen zu diesem Thema: Politikerinnen, Journalistinnen, Historikerinnen und andere Berufsgruppen kommen zu Wort. Jeder Beitrag für sich ist interessant und lesenswert. Dieses Buch macht deutlich, wie wichtig es ist, sich an die historische und politische Dimension der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland zu erinnern!
2019 markiert einen weiteren rechtshistorischen Meilenstein für die Rechte von Frauen: Vor 70 Jahren ist das Grundgesetz in Kraft getreten. 1948 wurde auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee das Grundgesetz vorbereitet. Wenn es um die Geschichte des Grundgesetzes geht, ist häufig von den „Vätern des Grundgesetzes“ die Rede, dass es auch „Mütter“ des Grundgesetzes gab, ist vielen unbekannt.
Eine der „Mütter“ des Grundgesetzes
Eine wichtige Rolle spielte Elisabeth Selbert, Rechtsanwältin aus Kassel. Auf ihr Drängen kam der schlichte Satz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ins Grundgesetz. Dieser Satz steht so als Grundrecht in Artikel 3 Absatz 2 im Grundgesetz. Fünf Worte mit weitreichender Bedeutung. Er ist Voraussetzung für die rechtliche Durchsetzung von Gleichberechtigung.
Der Fernsehfilm „Sternstunden ihres Lebens“, in dem Iris Berben die Juristin Elisabeth Selbert spielt, würdigt das Leben dieser herausragenden Juristin. In der Süddeutschen Zeitung hieß es kürzlich über Elisabeth Selbert (newsletter SZ vom 12. August): „Das Land verdankt ihr viel, die Gleichberechtigung verdankt ihr den Aufbruch in eine neue Zeit“.
Es lohnt sich, sich mit dem Leben und Wirken der Frauen zu beschäftigen, die mit ihrem Mut und Engagement das Wahlrecht und den Gleichheitssatz im Grundgesetz erkämpft haben und den langen und harten Weg, den sie gegangen sind, zu würdigen. Das darf nicht vergessen werden.
Isabel Rohner und Rebecca Beerheide (Herausgeber): 100 Jahre Frauenwahlrecht. Ziel erreicht! …und weiter?“. Ulrike-Helmer-Verlag, 200 Seiten, 18 Euro.