Louis und Alice sprechen seit 20 Jahren nicht mehr miteinander. Ein Autounfall der Eltern bringt die beiden Geschwister an den Rand des Abgrunds. Ein intensives Drama zeichnet ihre destruktive Beziehung nach.
Als sie ihn im Flur des Krankenhauses erblickt, bricht sie zusammen. Er will sich ihretwegen einmal sogar vom Dach stürzen. Die Frau und der Mann sind keine ehemaligen Liebhaber, sondern Schwester und Bruder. Ihre gegenseitige Abneigung ist so groß, dass sie seit Jahren nicht mehr miteinander sprechen. Doch handelt es sich wirklich um Hass, wie beide behaupten? Wie konnte es so weit kommen, dass die Geschwister sich dermaßen entzweit haben? Dieses ungewöhnliche Spannungsverhältnis untersucht Regisseur Arnaud Desplechin in “Bruder und Schwester”. Das Drama feierte 2022 Premiere in Cannes; am 17. Juli zeigt Arte es zur Primetime.
Der Film beginnt mit einer Tragödie. Louis (Melvil Poupaud), das mittlere Kind von drei Geschwistern, hat gerade seinen sechsjährigen Sohn verloren. Auf der Totenwache wollen auch Louis’ Schwager Borkman (Francis Leplay) und seine Schwester Alice (Marion Cotillard) ihr Beileid bekunden. Doch Louis droht ihnen in einem Wutanfall mit der Polizei, sodass sie den Rückzug antreten.
Fünf Jahre später wird die Familie erneut von einem Schicksalsschlag heimgesucht: Die betagten Eltern von Alice und Louis werden bei einem Autounfall schwer verletzt. Um seine Eltern im Krankenhaus zu besuchen, verlässt Louis durch die Vermittlung seines besten Freundes Zwy (Patrick Timsit) sein abgeschiedenes Haus in den Bergen, wohin er sich nach dem Tod seines Sohnes mit seiner Frau Faunia (Golshifteh Farahani) zurückgezogen hat.
Sehr zum Kummer des dritten und jüngsten Geschwisterkinds, des Bruders Fidele (Benjamin Siksou), tun Alice und Louis alles, um einander aus dem Weg zu gehen. Dann kommt es zufällig doch zu einer Begegnung der beiden in einem Supermarkt. Eine Annäherung scheint möglich, bevor die Fehde erneut ausbricht. Doch ewig lässt sich der Hass nicht aufrechterhalten.
Desplechin bedient sich für sein Porträt einer zerrütteten Familie verschiedener Stilmittel. So spricht Louis in einer Szene im Flugzeug in die Kamera, was auch Alice am Ende des Films tut. Dann wiederum fungiert sie in einer von mehreren Rückblenden als Erzählerin. Darin schildert sie, warum sie angefangen hat, Louis zu hassen.
Auch in der Beziehung von Eltern und Kindern scheint einiges im Argen zu liegen. So erzählt der im Krankenhaus liegende Vater seinem Sohn Louis, dass dessen Mutter ihn nie sehr geliebt habe. Louis wiederum beklagt sich bei seinem Vater, wie die Eltern Alices Hass ihm gegenüber zulassen konnten. Außerdem habe der Vater ihm als Kind und Heranwachsenden immer wieder Beispiele seiner Unzulänglichkeit vor Augen geführt. Die Wunden sitzen tief innerhalb der Familie und brechen in dem Moment vollends auf, als die Kinder von den Eltern Abschied nehmen müssen. Ist dies der Moment, reinen Tisch zu machen?
Angesichts eines offensichtlichen Mangels an Zuneigung oder zumindest von deren ungleicher Verteilung, brechen die Emotionen aus Louis und Alice in etlichen Situationen ungefiltert heraus. Melvil Poupaud und Marion Cotillard spielen diese beiden hypersensiblen und zugleich egozentrischen Geschwister von leisen bis hin zu manischen Momenten und offenbaren die ganze Palette ihrer Schauspielkunst. Immer wieder gehen die Gefühle mit den beiden Protagonisten durch: Beherrschen können und wollen sie sich offenbar nicht.
Das mag mitunter etwas hysterisch wirken, und manchmal dreht die Musik dabei auch noch laut auf. Doch Regisseur Desplechin geht in seiner Geschichte keinerlei Kompromisse ein. Wie Eifersucht, Neid und ein sich wandelndes Machtverhältnis sich zu dem Hass hochschaukeln konnten, der letztlich ein Mangel an Kommunikation ist und sich irgendwann verselbstständigt hat, schildert der Film kunstvoll.