Im Wendesommer 1990 beginnt eine Schülerin in der DDR eine sich bis ins Brutale steigernde Affäre mit einem deutlich älteren Mann.
Wohin fliehen, wenn die Welt zerfällt? Maria (Marlene Burow) zieht sich aus der bleiernen Ungewissheit zunächst in die Literatur zurück: Sie versenkt sich lieber in Dostojewskis “Die Brüder Karamasow”, als in die Schule zu gehen. Weil im Wendesommer 1990 viele Lehrkräfte in den Westen gegangen sind, fallen ohnehin die meisten Stunden aus.
Das milchige Licht eines heißen Tages streift schon in der ersten Kamerafahrt die Schultern der Lesenden. Dass der Wind derweil die Gardinen am Fenster wie Spitzenwäsche bewegt, weist fast etwas zu deutlich auf einen bevorstehenden erotischen Ausbruch hin. In diesem behaglich verranzten Dachboden haust Maria mit ihrem bis zur Langweiligkeit netten Freund Johannes (Cedric Eich). Dessen Eltern, die herzliche Marianne (Silke Bodenbender) und der muffelige Siegfried (Florian Panzner), haben Maria wie eine Tochter auf ihrem Hof aufgenommen. Marias eigene Mutter (Jördis Triebel) hingegen ist arbeitslos und versinkt im Dorf in eine Depression.
Die DDR ist bald Geschichte, die Felder wollen trotzdem bestellt sein. Die verbliebene Familie packt an, und auf einmal gibt es Sprühsahne. Maria schmeckt das Industrieprodukt nicht so gut wie die Sahne von Oma; auch dies ein Hinweis auf ihr sinnliches Verlangen nach dem Puren.
Weniger aus solch plakativen Motiven als aus der schwer zu greifenden, latent bedrohlichen Atmosphäre zwischen Zerfall und Neuanfang bereitet Emily Atef die Notwendigkeit der eigentlichen Flucht Marias vor: die in eine Affäre mit dem viel älteren, düsteren, aber charismatischen Bauern Henner (Felix Kramer). Der Funke springt bei einer einzigen, von Gefahr flankierten Berührung über, als Maria von Henners Rottweilern gestellt wird. Er hat sie, wie seine eigenen Aggressionen, offenbar weitgehend im Griff.
Wie eine Diebin zum Honigtopf schlüpft Maria immer häufiger zum Bauern hinüber, belagert ihn fast, plündert sogar die Vorratskammer ihrer Gastgeber und trägt die Beute zu Henner, der ja Kraft braucht für das, was sie von ihm will. Bald aber dringt sie auch in Henners verwundete Seele ein, etwa in der gemeinsamen Lektüre von Georg Trakls todesverhangenen Gedichten.
Ruhe und abrupte Ausbrüche folgen unberechenbar aufeinander, die Kamera von Armin Dierolf, die den Leibern kühl auf die Pelle rückt, macht aus einer Hand, die ein Baumwollkleid hochzieht oder aus einer Sandale, die ausgezogen wird, lauter kleine Kammerspiele des Stofflichen.
Der Debütroman von Daniela Krien wurde nach seinem Erscheinen 2011 fast durchweg gefeiert. Gerade die erotischen Szenen ernteten viel Lob. Die zwölf Jahre, die seither vergangen sind, machen sich dennoch bemerkbar, wenn man die Zeitrechnung vor und nach “MeToo” berücksichtigt und neu errungene Erkenntnisse und Sensibilität zum Thema Machtmissbrauch mit einkalkuliert.
Es lag auf der Hand, diesen Stoff Emily Atef anzuvertrauen, die mit Filmen wie “Das Fremde in mir” oder “3 Tage in Quiberon” ihr Vermögen für unsentimental-eindringliche Frauenporträts bewiesen hat. Das Drehbuch schrieb sie zusammen mit der Romanautorin. Beide waren sich einig, dass Maria nicht mehr 16 Jahre alt sein sollte wie im Roman, sondern 18. Man habe die Gefahr vermeiden wollen, “dass der Film auf das sexuelle Verhältnis reduziert wird”, so Atef.
Doch dieses Zugeständnis an den Zeitgeist fokussiert den Blick erst recht auf das Sexuelle. Die Verfilmung entschärft damit zwar einen entscheidenden Aspekt der Vorlage, treibt aber zugleich deren körperliche Energie voran. Ob zu jener oder zu irgendeiner Zeit das Verhältnis zwischen einem 40 Jahre alten Mann und einer Heranwachsenden gleichberechtigt war, ist oder sein kann, erfährt in “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” keine Auflösung.