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Arte-Doku über Großbritannien nach dem Brexit

Offensichtlich war der Brexit keine gute Idee: Fünf Jahre danach befindet sich Großbritannien noch immer im wirtschaftlichen Abschwung. Labour versucht einen Neustart, auch im Umgang mit der EU – doch was bedeutet das konkret?

“Tell us what you want/What you really, really want”, das sei, frei nach dem Spice-Girls-Hit “Wannabe” die zentrale Frage der EU an Großbritannien. Also: Sagt uns was ihr wollt, was ihr wirklich, wirklich wollt. So formuliert es die EU-Parlamentarierin Nathalie Loiseau in der Dokumentation “Brexit Blues – Fünf Jahre nach dem EU-Austritt”, die Arte am Dienstag von 22.45 bis 23.40 Uhr ausstrahlt.

Denn es ist ein Neustart voll widersprüchlicher Botschaften, den die Regierung von Premierminister Keir Starmer seit dem vergangenen Juli hinlegt. In einer Charme-Offensive sucht das nach langen Tories-Jahren nun wieder von Labour geführte Land die Nähe zur EU. Es gibt einen Europa-Minister; vor dem britischen Parlament wird täglich gegen den vollzogenen Ausstieg demonstriert. Und 70 Prozent der Labour-Wähler sprechen sich für eine Rückkehr ihres Landes in das europäische Bündnis aus. Doch (noch) gibt es keine offiziellen derartigen Verlautbarungen.

Ohnehin haben Starmer und seine Leute alle Hände voll zu tun, das wirtschaftlich stark gebeutelte Land zu stabilisieren: Der Brexit ist Großbritannien bekanntermaßen nicht gut bekommen. Die Lebenshaltungskosten sind wie die Armutsraten enorm gestiegen, einst stolze Institutionen wie das Gesundheitssystem NHS befinden sich im Niedergang.

Die Gründe sind vielfältig: Es fehlt an Personal, hier wie etwa auch in der Landwirtschaft: Durch die entfallene Freizügigkeit ist es schwieriger geworden, Menschen ins Land zu holen. Ähnliches gilt für den Import von Waren; die entsprechende Bürokratie bindet weitere Kräfte. Und nicht einmal jene, die sich eine bessere Kontrolle der sogenannten illegalen Migration durch den EU-Austritt erhofft hatten, können zufrieden sein: Deren Zahl ist weiterhin hoch.

Dazu kommt die spezielle Situation des zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland: Der Brexit teilt die Insel nach dem Ende des Konflikts zwischen dem katholischen Süden und dem protestantischen Norden erneut, ruft ein “altes Trauma” wach – schließlich ist Irland weiterhin Mitglied der EU. Mit dem Brexit kommt der Gedanke einer irischen Wiedervereinigung neu auf: Diese wäre für Nordirland der schnellste Weg zurück in die EU, zumal für die jüngere Generation Religion eine immer geringere Rolle spielt.

Um die ideellen Verluste geht es aber auch, das nicht-mehr-gemeinsam-agieren-können – gerade in Zeiten des russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. “Wir sind weg vom Fenster”, formuliert es Historiker Timothy Garton Ash einmal auf Deutsch – und das, obwohl sich Großbritannien bei Waffenlieferungen an die Ukraine als sehr großzügig erweist. Den Brexit nennt Garton Ash den überflüssigsten “Akt nationaler Selbstverstümmelung in unserer Geschichte”.

Er ist der prominenteste Gesprächspartner von Regisseur Sebastian Bellwinkel; dazu kommen Politikerinnen und Rechtswissenschaftler, Landwirtinnen und Aktivisten. Die 52-minütige Doku streift viele Aspekte; dass man dabei nicht zu sehr in die Tiefe schürfen kann, ist klar. Manch ein Punkt erweist sich freilich als nicht sonderlich aussagekräftig; so hätten die Exkurse in die Londoner Finanzwelt oder die Flüchtlingsarbeit des Fußballvereins FC Everton knapper ausfallen dürfen. Auch bildnerisch ist der von Sandra Maischbergers Produktionsfirma betreute Film kein großer Wurf. Trotzdem ist Bellwinkel ein interessanter, vielfältiger Einblick in ein zunehmend virulentes Thema gelungen.

Doch wie würde die EU eigentlich reagieren, wenn Großbritannien nun tatsächlich um Wiederaufnahme bäte? Die Politikwissenschaftlerin Cathryn Clüver Ashbrook geht in ihrer diesbezüglichen Analyse von noch immer überraschend starken Gefühlen aus: Der Brexit sei für die Europäer “fast irrational schmerzhaft” gewesen. Weshalb das Gefühl vorherrsche, dass das Vereinigte Königreich “weiterhin abgestraft werden müsse” – aktuell sei der “Moment des Schmerzes” jedenfalls noch nicht überwunden. Klingt nach dem trotzigen Gebaren von Ex-Lovern – und so, als wäre es noch zu früh, um ernsthaft über eine Rückabwicklung des Brexit nachzudenken.