Artikel teilen

Achtsamkeit im Supermarkt

Das Paar ist irritiert. „Ziemlich dunkel hier“, sagt die Frau. Ihr Mann zuckt die Schultern. „Stromsparen vielleicht – wegen der Inflation“, murmelt er und schiebt den Einkaufswagen durch die Obst- und Gemüseabteilung. Äpfel, Eisbergsalat und Kürbisse liegen tatsächlich in ungewohnt dämmrigem Licht. Und noch etwas ist anders beim Edeka am Herrenhäuser Markt in Hannover. Es ist still. Praktikant Yann Hornung drückt den Kunden die Einkaufwagen sogar einzeln in die Hand, damit Sperrketten und Metallgitter nicht klimpern.

Es ist das erste Mal, dass der Supermarkt im hannoverschen Norden zur „Stillen Stunde“ geladen hat. Einkauf ohne Reizüberflutung. Ein Angebot, das insbesondere für Menschen gedacht ist, die hochsensibel sind, ADHS haben, unter Autismus oder einer Angststörung leiden oder einfach von zu vielen Eindrücken und Reizen überfordert sind.

Die Idee stammt aus Neuseeland. Die Supermarktkette „Countdown“ hat die „Low-sensory Quiet Hour“ vor rund vier Jahren eingeführt. „Wir möchten, dass unsere Märkte alle Neuseeländer einbeziehen“, heißt es auf der Homepage und weiter: Lebensmitteleinkauf könne für manche Kunden angstbesetzt sein. „Deshalb bieten wir eine ruhige Stunde mit geringen sensorischen Anforderungen an.“ In Deutschland gibt es inzwischen einige Supermärkte, die reizarmes Einkaufen anbieten – unter anderem in Greifswald, Bergisch Gladbach und Offenbach.

Nadja Wirth ist Inhaberin der Edeka-Filiale am Herrenhäuser Markt. Sie zählt auf, was in der „Stillen Stunde“ alles anders ist als sonst: Das Licht wird gedimmt, es gibt keine Musik, keine Werbung, keine Lautsprecherdurchsagen. Die Barcodes an den Kassen piepen nicht, auf das Auffüllen der Regale wird verzichtet. Es fahren keine Hubwagen durch den Laden, kein Klirren von Flaschen und Gläsern, kein Summen, Rascheln, Scheppern.

Ursula Zech ist zufällig in die „Stille Stunde“ geraten. Sie habe sich erst etwas gewundert, sagt die 75-Jährige. „Doch jetzt empfinde ich es als sehr angenehm, alle sind etwas verhaltener, bedächtiger, umsichtiger.“ Für ältere Menschen wie sie sei das ideal, sagt sie.

In der Tat scheinen sich Ruhe und gedämmtes Licht auf die Einkaufenden positiv auszuwirken. Sie wirken entspannter, freundlicher, höflicher. Natürlich nicht alle. Eine Gruppe Jugendlicher biegt mit Chipstüten und Eistee um die Ecke. Sie reden und kichern laut. Die „Stille Stunde“ scheint an ihnen vorbeigegangen zu sein. Oder nicht? Als sie den großen Aufsteller mit dem „pssst-Emoji“ sehen, dämpfen auch sie ihre Stimmen.

Dass die Kunden sich anders, bewusster durch den Markt bewegen, hat auch Josefine Hartmann bemerkt. Sie leitet die hannoversche Autismus-Ambulanz von „Pro School“ und war mit der Idee der „Stillen Stunde“ auf Supermarkt-Inhaberin Nadja Wirth zugekommen. „Was wir hier sehen, diese gegenseitige Rücksichtnahme, das ist ja im Grunde das Ziel von Inklusion. Wir sind happy.“

Auch Wirth wertet die ersten Erfahrungen positiv – am 17. Oktober soll es die nächsten stillen Einkaufstunden geben. Und wenn alles weiter glattläuft, dann können die Menschen am Herrenhäuser Markt demnächst jeden dritten Dienstag reizarm einkaufen.

Warum sie die „Stille Stunde“ nicht noch häufiger anbietet, will eine Frau wissen, die ebenfalls mit autistischen Kindern zusammenarbeitet. Wirth schaut skeptisch. „Das wird nicht gehen“, sagt sie. „Es muss schon in die Abläufe passen.“ Dreimal die Woche würden neue Waren geliefert, einmal die Woche Getränkekisten – ein ruhiger Ort sei ein Supermarkt von Natur aus eigentlich eher nicht.