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«Der Trunk schmeckt gut»

Noch bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts grassierten in Deutschland regelmäßig Polio-Epidemien. Nirgendwo in Europa erkrankten mehr Menschen. Dann setzten die Länder auf Massenschluckimpfungen – Bayern war 1962 im Westen Vorreiter.

Norbert Neetz

München/Bielefeld (epd). Bayerns Innenminister Alfons Goppel hob am 5. Februar 1962 einen kleinen Becher, leerte ihn in einem Zug und sprach: «Der Trunk schmeckt gut.» So berichtete die örtliche Presse von der Aktion vor 55 Jahren. Der CSU-Politiker und spätere Ministerpräsident hatte im Blitzlichtgewitter der Reporter im großen Sitzungssaal seines Ministeriums den offiziellen Startschuss zur ersten Massenschluckimpfung gegen Kinderlähmung (Poliomyelitis) gegeben – eine gut inszenierte PR-Aktion, würde man wohl in heutigem Jargon sagen.

Die DDR hatte da bereits die Nase vorn beim Polio-Impfschutz. Sie setzte ab April 1960 auf die Massenimmunisierung mittels eines US-Impfstoffes, der in der Sowjetunion weiterentwickelt und dort auch getestet worden war. Knapp zwei Jahre später nahm dann auch der Westen mit Wucht den Kampf gegen die Viruserkrankung auf, die zu bleibenden Lähmungen führen kann und gegen die es bis heute keine Therapie gibt.

Bayern betrat 1962 als erstes westliches Bundesland Neuland mit den Schluckimpfungen. In München war nach amerikanischem Vorbild 1952 der Verein «Pfennigparade» als Spenden-Initiative gegründet worden – entstanden aus einer von den Medien unterstützten großen Wohltätigkeitsaktion zugunsten der Opfer von Kinderlähmung.

Georg Hohmann, Chef der Münchner Orthopädischen Universitätsklinik, übernahm den Vorsitz der «Pfennigparade». Er verschrieb sich mit ganzer Kraft dem Kampf gegen die Kinderlähmung.

Hohmann «ist es zu verdanken, dass in Bayern als erstem Bundesland die Polio-Schluckimpfung eingeführt wurde», heißt es in der Chronik, die zum 50. Gründungsjubiläum erschien. Die «Pfennigparade» ist heute eine Stiftung und mit mehr als 2.500 Beschäftigten und führend auf dem Feld der Rehabilitierung von Menschen mit Behinderungen.

Bayern setzte auf den nicht unumstrittenen Lebend-Impfstoff des US-Forschers Albert Sabin. Zuvor hatte es zwar im Westen einzelne Impfaktionen per Spritze gegeben, die einen Totimpfstoff aus inaktivierten Viren enthielten (Methode nach Jonas Salk). Doch war das Präparat noch nicht unbegrenzt verfügbar. Und: Diese dreimalige, anfangs kostenpflichtige Impfung wurde kaum angenommen. Bis 1961 hatten sich nur 3,7 Prozent aller Westdeutschen impfen lassen.

Dänemark verzeichnete damals eine Impfrate von 98 Prozent, die Niederlande kamen auf 87 Prozent.

Gerhard Joppich, damals Professor in Göttingen und Präsident der «Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung», rügte: «Die spritzenscheue Bevölkerung hat selbst dafür gesorgt, dass die Poliomyelitis nach ihrer Vertreibung aus anderen Ländern hier eine Zuflucht besitzt, in der sie wenig behelligt wird.» Er wähnte sich gar in «einem Paradies für Polio».

Dass dringender Bedarf bestand, den Impfschutz zu erhöhen, zeigen Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts, wonach die Bundesrepublik damals das Land mit der höchsten Polio-Rate in ganz Europa war. 1961 war es zu einer Epidemie mit über 3.300 Gelähmten und 272 Toten gekommen.

Nach Angaben des Vereins «POLIO Selbsthilfe» mit Sitz in Bielefeld erfolgt die Infektion meist durch Aufnahme von infizierten Lebensmitteln.

Auch die «Nürnberger Nachrichten» berichteten 1962 über den Start der Impfaktion in Kindergärten, Schulen oder Turnhallen, an der freiwillig alle im Alter zwischen drei Monaten und 40 Jahren teilnehmen konnten. Der tiefgekühlte Impfstoff war demnach mit einem Sonderflugzeug vom Nationalen Gesundheitsinstitut aus den USA gekommen und wurde bei minus 20 Grad eingelagert.

«Seit 1962 führte die damals gut organisierte und durchgeführte Polio-Massenimpfung zu einem abrupten Abfall der Morbidität», sagt Sabine Diedrich, Expertin am Robert Koch Institut in Berlin, dem epd:

«Wurden vor der Impfeinführung im alten Bundesgebiet noch über 4.500 Fälle gemeldet (1961), waren es 1962 nur noch 296 und 54 im Jahr 1964.» Bis zum Ende des Jahres 1962 wurden nach ihren Angaben mehr als 22 Millionen Menschen in Westdeutschland geimpft, etwa 42 Prozent der Bevölkerung.

Fortan nahm der Siegeszug der Impfung seinen Lauf. Generationen von Deutschen haben das Schlagwort der Kampagne bis heute nicht vergessen: «Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam».

Forscherin Diedrich bezeichnete die aktuelle Impfrate in Deutschland als «nicht schlecht». Sie liege bei 95 Prozent im Bundesdurchschnitt, wie Daten aus den Schuleingangsuntersuchungen

2015 belegten: «Doch die Rate darf nicht absinken, weil sonst der von der Weltgesundheitsorganisation geforderte Wert von 90 Prozent unterschritten wird.»

Seit 1998 schluckt man den Impfstoff nicht mehr mit Zuckerwürfeln, Fruchtsaft oder Sirup. Stattdessen wird ein weiterentwickelter Totimpfstoff eingesetzt – das endgültige Aus der Schluckimpfung, denn der neue Impfstoff wird wieder gespritzt.