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3sat-Doku über den Reiz wahrer Kriminalfälle

Schillers “Räuber” wurden ebenso von wahren Verbrechen inspiriert wie “M – eine Stadt sucht einen Mörder” und Truman Capotes “Kaltblütig”. Die Faszination von True-Crime-Stories ist ungebrochen, wie eine 3sat-Doku zeigt.

Lizzie Borden wird im August 1892 beschuldigt, ihre Stiefmutter und ihren Vater mit einem axtähnlichen Gegenstand ermordet zu haben. Mehrere Indizien und eine Falschaussage belasten die damals 32-jährige US-Amerikanerin. Die von der Anklage vorgebrachten Beweise können die Geschworenen nicht überzeugen. Borden wird frei gesprochen.

Den Prozess verfolgt damals Edmund Lester Pearson, in jenen Jahren einer der bekanntesten Gerichtsreporter der USA. 1924 stellt er den Borden-Fall ins Zentrum seines Buches “Studies in Murderer”. Von den detaillierten Berichten um Mordermittlungen und Prozess erscheinen sechs Ausgaben. Seine Berichte lösen eine Welle von Publikationen aus, in denen grausame Verbrechen aus der Geschichte der Justiz nacherzählt werden. Das Genre True Crime, also wahre Verbrechen, wird damit erstmals als eigenständiges Genre wahrgenommen.

Die Dokumentation “Angstlust – Faszination True Crime” von Memo Jeftic versucht, der Begeisterung des Publikums für die Geschichten von Mördern und Mörderinnen auf die Spur zu kommen. 3sat strahlt sie am 4. November um 19.20 Uhr aus.

Das Genre sei natürlich viel älter als Pearsons Mörderstudien, wie Literaturwissenschaftler Simon Sahner am Beispiel von Friedrich Schiller erläutert. So ranken sich beispielsweise etliche Spekulationen um den Bezug von Shakespeares Werken zu Ereignissen, die damals Menschen in London bewegten oder zu blutigen Geheimnissen am Königshof.

Auch der amerikanische und deutsche Spielfilm haben die Faszination des Publikums für True-Crime-Stories schnell aufgegriffen. Als herausragende Beispiele benennt der Autor der Dokumentation Fritz Langs “M – eine Stadt sucht einen Mörder”. Die Handlung und Charakterisierung der Figur des gesuchten Täters weisen Bezüge zu Fritz Haarmann auf, dem die Staatsanwaltschaft 24 Morde an Jungen nachweisen konnte. Und auch die Ängste, die Haarmann bei den Menschen auslöste, nehmen in Langs Interpretation großen Raum ein.

In den USA bleibt Truman Capotes “Kaltblütig” unerreicht; Hollywood liefert bereits 1967 die erste Verfilmung des 1966 erschienenen Romans. Er stellt die Ereignisse im Haus der Familie von Herbert W. Clutter aus dem Jahre 1959 nach und forscht auch in der Vorgeschichte der beiden Täter, die das Ehepaar Clutter und seine beiden Kinder bestialisch ermorden.

Der Versuch, solche Taten zu verstehen, wird von Autoren und Autorinnen wie Helene Hegemann und Samira El Ouassil als einer der Gründe für den Boom des Genres ausgemacht. Ebenso sei es wohl der Wunsch von Lesern, Hörern und Zuschauern, im Ernstfall eines Angriffs selbst besser gewappnet zu sein.

Dafür sprechen zumindest verschiedene Fakten: Die Opfer der True-Crime-Stories sind meist Frauen. Andererseits sind 90 Prozent der Hörer der zahlreichen deutschen True-Crime-Story-Podcasts weiblich. Medienpsychologin Johanna Börstin spricht von einem Gefühl von Angst und Ekel, das durch die Geschichten ausgelöst wird, und gleichzeitig von einem Gefühl der Sicherheit, das sich einstelle. Denn viele Frauen spielten im Kopf durch, wie sie selbst in solch Gefahrensituation reagieren würden.

Nicht zuletzt ist es wohl die Lust, selbst einen Verbrecher zu stellen, der zum Boom von True-Crime-Formaten führt. Im deutschsprachigen Raum hat sich die ZDF-Reihe “Aktenzeichen XY” vor Jahrzehnten als Forum etabliert, das die Zuschauer auffordert, der Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen zu helfen. Moderator Rudi Cerne ist sich der Verantwortung bewusst, die Neugier des Publikums ohne Voyeurismus zu befriedigen und die Zuschauer zu aktivieren, ihr Wissen mit der Polizei zu teilen.

Ein ausführliches Kapitel widmet die Dokumentation den Vorgängen, die True-Crime-Stories im Gehirn der Rezipienten auslösen. Dabei gilt: Je realer und detailreicher die Nacherzählung ist, desto spannender wird es, und desto aktiver regiert das Gehirn des Menschen.

Memo Jeftic kommt in seinem Film zu dem Fazit, dass Menschen durch True-Crime-Stories lernen, mit ihrer Angst umzugehen, wenn sie gemütlich im Zimmer sitzen und ihnen ein Schauer über den Rücken läuft. Außerdem dienten sie dem Abgleich des moralischen Kompasses des Zuschauers. Daher gehörten sie zur Kulturgeschichte der Menschheit und würden es immer gehören.