Die Gedächtnisleistung nimmt bei älteren Menschen ab: Diese bislang geltende These hat der Tübinger Sprachwissenschaftler Harald Baayen widerlegt. Er zählt zu den Spitzen-Wissenschaftlern im Forschungsbereich des gesprochenen Wortschatzes und ist einer der Pioniere der computergestützten Sprachforschung. „Die Annahme, dass Ältere weniger Wörter wissen, ist nicht wahr“, betont Baayen. Das ergaben seine Testreihen, in denen anhand von Computermodellen menschliches Verhalten simuliert wurde.
In den Tests wurde die Computerkapazität der Gehirnkapazität gleichgesetzt. In einer Testreihe wurde der Rechner mit wenigen Datensätzen gefüttert und entsprach damit den Wortschatzleistungen eines Jugendlichen. In einer weiteren Reihe wurde der Computer mit großen Datenmengen gefüttert, die das angehäufte Wortschatz-Wissen eines langen Lebens nachzeichnen sollten.
Wie bei einem dünnen und dicken Telefonbuch
Der Rechner wurde bei der zweiten Testreihe langsamer – weil er mehr Informationen verarbeiten musste. Die Unterschiede ergaben sich also aufgrund der Datenmengen, die für die Arbeitsgänge durchgecheckt werden mussten, und nicht, weil die Leistungsfähigkeit des Computers nachgelassen hätte.
Seine Ergebnisse veranschaulicht Baayen mit einem weiteren Bild: Nimmt man ein Telefonbuch mit wenig Adressen und Namen, ist es dünner – wie der geringere Wortschatz eines Jüngeren. Mit deutlich mehr solcher Begriffe wartet ein dickes Telefonbuch auf, wie beim größeren Wortschatz von Älteren. „Im dünnen Telefonbuch findet man Adressen viel schneller als im dicken“, ist sein Fazit.
Der Sprachwissenschaftler Michael Ramscar erläutert die Ausgangslage: „Ältere Menschen wissen mehr, sie haben einen größeren Wortschatz.“ Bei den gängigen Wortschatz-Tests werde jedoch der längere Suchmechanismus zu wenig berücksichtigt. Die bisherigen Tests stuften deshalb das längere „Blättern im Hirn“ fälschlicherweise als „vergessenes“ oder „verlangsamtes“ Gedächtnis ein, sagen die Wissenschaftler.
Doch bei Älteren sei nicht nur mehr Wissen vorhanden. „Sie können dieses Wissen auch besser einsetzen“, so eine weitere Erkenntnis Baayens. Das ergab sich aus Versuchreihen, bei denen Wortpaare zugeordnet werden mussten. Eine Kategorie Wortpaare implizierte einen Zusammenhang, etwa „Baby – schreien“. Die andere Kategorie enthielt unsinnige Kombinationen, etwa „Baby – Adler“.
Erfahrungen beeinflussen Lernen und Sprache
Jugendliche prägten sich zwar auch die sinnigen Wortpaare besser ein, weil die allgemein häufiger verwendet werden. Sie lernten in dem Test jedoch ebenso gut die völlig willkürlich gewählten Paare. Dagegen merkten sich ältere Teilnehmer deutlich stärker passende Wort-Kombinationen. Das liege aber nicht am Unvermögen: „Sie haben mehr Erfahrungen mit Sprache und sich deshalb geweigert, Unsinniges zu lernen“, sagt Baayen.
Ein ähnliches Resultat ergaben Studien mit Personen, die Chinesisch als Muttersprache und als Zweitsprache Deutsch hatten. Sie maßen sich mit deutschen Muttersprachlern. In dem Test schnitten die Chinesen bei den unsinnigen Wortpaaren besser als die Deutschen ab: „Wenn eine Sprache fremd ist, fällt es leichter, unsinnige Wortpaare auswendig zu lernen. Je besser man eine Sprache spricht, umso eher weiß man, dass diese Verknüpfungen im alltäglichen Sprachgebrauch gar nicht anwendbar sind“, so der Linguist.
