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Zu klein für die Wahrheit

Bei UK gibt es eine Teeküche. Die ist eng. Neulich lag da eine Plastikhaube im Weg, mit der man in der Mikrowelle die Speisen abdeckt. Also habe ich sie weggelegt. Oben, auf den Schrank, Ordnung muss sein. Was mir nicht klar war: Die Kollegin, die nach mir in die Teeküche ging, musste stundenlang nach dem Teil suchen; erst in der Teeküche. Dann auf der Etage. Dann im gesamten Haus. Der Grund: Die Kollegin ist anderthalb Köpfe kleiner als ich. Sie konnte aus ihrer Perspektive die Plastikhaube nicht finden.

Oft kommt es eben auf den Blickwinkel an. Wie würden Menschen aus früheren Zeiten reagieren, wenn sie uns heute sehen könnten? Unsere Großeltern, denen schon beim Anblick der Beatles die Haare zu Berge standen. Unsere Urgroßeltern, die dem Kaiser die Treue hielten und Demokratie als Geschwätz abtaten.
Luther, Zwingli, Papst und Fürsten – könnten die mit einem ökumenischen Gottesdienst ihren Frieden machen? Mit der Gleichberechtigung der Geschlechter? Würden sie mit uns Reue empfinden über Glaubenskriege und Hexenverbrennungen?
Astronauten, die die Erde aus dem Weltall sehen konnten, berichten von einer überirdischen Schönheit (Seite 11). Unser Planet, ein leuchtendes, zartes Blau. Eine Insel des Lebens in der Dunkelheit. Bei diesem Anblick, sagen sie, erscheint alles in einem neuen Licht: Sorgen, Ängste, Feindseligkeit verlieren ihren Sinn.
Vielleicht fehlt uns manchmal dieser Blick. Diese andere Perspektive. Vielleicht sind wir schlicht zu klein, um die volle Wahrheit zu erkennen. Dieser Gedanke könnte helfen, wenn wir demnächst wieder einmal über ewige Wahrheiten streiten.