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Zeitbombe Einsamkeit? – Eine Erfahrung prägt die Gesellschaft

Ab Mittwoch beraten Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychosomatiker über “Beziehungen in der Krise”. Ein Thema des Kongresses: Einsamkeit – denn die hat nicht nur für Betroffene gravierende Auswirkungen.

In das Leben mancher Menschen, schreibt der Soziologe Janosch Schobin, habe sich die Einsamkeit regelrecht eingeschrieben: “in die Weise, wie man geht und redet, wie man sich zur Welt verhält und wie sich die Welt zu einem verhält”. Zugleich werde es heute vielfach als Privatsache betrachtet, etwa “der Nächste eines Sterbenden” zu sein – im Christentum gilt dies als “Werk der Barmherzigkeit”, als eine Art unmittelbarer Auftrag von Jesus selbst. Man könne, so Schobin, der Auffassung sein, dass die Gesellschaft etwa gegenüber Menschen, die alleine sterben und bestattet werden, versagt habe.

Doch längst sind es nicht mehr allein alte und kranke Menschen, die unter Einsamkeit leiden, wie neuere Studien zeigen. Die Folgen unter Jüngeren können ebenfalls dramatisch sein, warnt der Psychotherapeut Hans-Christoph Friederich. Sie entwickelten mitunter zu wenig sogenanntes systemisches Vertrauen – damit verbunden sind beispielsweise die Kompetenzen, eigene Beziehungen zu stärken oder sich aus solchen zu lösen, die sich ungut entwickeln.

Friederich äußerte sich zum Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, der am Mittwoch unter dem Motto “Beziehungen in der Krise – Aufbrüche” in Berlin beginnt. Dort wird unter anderem eine weltweite Studie vorgestellt, die die Wirkung von Psychotherapie bei Posttraumatischen Belastungsstörungen untersucht hat – davon sind wiederum eher Menschen betroffen, denen Vertrauen fehlt.

Wie Menschen soziale Beziehungen gestalten können, dafür spielt schon die Kindheit eine prägende Rolle. Erfahrungen wie Vernachlässigung, Missbrauch oder emotionale Unsicherheit könnten die Beziehungsfähigkeit stören, erklärt Kongresspräsident Johannes Kruse. Davon seien Schätzungen zufolge in ganz Europa mehr als 55 Millionen Kinder betroffen; in Deutschland berichte ein Drittel der Erwachsenen von “prägenden negativen Erlebnissen” in der Kindheit, die ihre Entwicklung und ihr Wohlbefinden beeinträchtigen.

Dies beeinflusse auch gesellschaftliche Dynamiken, erklärt Kruse: Nicht wenige Betroffene seien einerseits enorm misstrauisch, andererseits wollten sie jenen glauben, die signalisierten: “Es ist alles gut, ich beschütze dich.” In der Kindheit könne dies die Mutter sein, die Schläge des Vaters dann doch nicht verhindern könne – und im Erwachsenenalter etwa Politiker mit vermeintlich einfachen Lösungen. “Man übernimmt lieber etwas, das man ‘einfach glauben’ kann, als komplexe Positionen zu prüfen”, so der Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Marburger Uniklinik: Wie problematisch dies sein könne, sei während der Corona-Zeit deutlich geworden.

Die zunehmende Erfahrung von Einsamkeit erscheine paradox, während es via Social Media und Kontakt-Plattformen so einfach sei wie nie zuvor, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, sagt Friederich. Aber: “Wir tun so, als seien körperliche Nähe, Wärme und reale Begegnungen nicht mehr wichtig.” Ein kollegialer Händedruck oder eine freundschaftliche Umarmung seien virtuell nicht möglich. Wenn digitale Medien fehlendes soziales Miteinander ausgleichen sollten, “dann findet sich ein signifikanter Zusammenhang mit Einsamkeit”.

Einen Schritt weiter geht die Psychologin Johanna Degen. Online-Gewohnheiten beeinflussten heute das gesamte Alltagsverhalten, sagt sie. So komme es etwa in Familien vor, dass im Streit lange Chatnachrichten geschrieben würden, versehen mit Emojis und aus getrennten Zimmern. “Das macht es schwieriger, in einer Face-to-Face-Situation mit einem Konflikt umzugehen.” Auch suchten Menschen auf Social Media vermehrt nach körperlicher Beruhigung: Sie hätten das Gefühl, sich bei Instagram, TikTok und Co. an sichere Orte zurückzuziehen, die jederzeit genau das böten, wonach sie suchten. Dies nähre eine generelle Erwartung von Verfügbarkeit.

Zugleich werde Verwandtschaft zunehmend durch soziale Strukturen ersetzt, “die von den Menschen ständig selbst geflickt, gepflegt und erweitert werden müssen”, erläutert Schobin. Beziehungen ähnelten mehr und mehr “Konsumgütern mit einem beschränkten Haltbarkeitsdatum” – und die heutige Gesellschaft gehe davon aus, dass beides zu haben sei: “hohe Beziehungsautonomie und bedingungslose Bindungen”. Diese Entwicklungen wollen die Fachleute auch in Therapien künftig gezielter berücksichtigen.

Der Soziologe hat derweil auch Menschen getroffen, die von konfliktreichen Beziehungen abhängig – und gerade deshalb isoliert sind. Für die Zukunft rechnet er damit, dass sozialer Auf- und Abstieg, die Folgen von Klimawandel und von Künstlicher Intelligenz (KI), aber auch die Rolle “einsamkeitsdämpfender Substanzen” wie Alkohol die Debatten prägen werden. Verschwinden, so viel scheint festzustehen, wird das quälende Gefühl, “ganz anders zu sein als alle anderen Menschen”, vermutlich nie.