Stilles Gedenken, lauter Protest: In Serbien sind am ersten Jahrestag des Unglücks von Novi Sad erneut Menschenmassen auf die Straßen gegangen. Unterdessen schlägt Präsident Vucic ungewohnt versöhnliche Töne an.
In Serbiens zweitgrößter Stadt Novi Sad haben am Samstag Zehntausende Menschen der Opfer des Bahnhofunglücks vor einem Jahr gedacht. Sie legten Kränze nieder, entzündeten Kerzen und hielten Schweigeminuten für die 16 Personen ab, die beim Einsturz eines Vordachs am 1. November 2024 ums Leben kamen. Der Unfall, den Regierungskritiker auf Korruption und Schlamperei zurückführen, hat eine anhaltende Protestwelle im Land ausgelöst. Zentrale Forderung der Demonstranten: vorgezogene Parlamentswahlen.
Auch in Belgrad, Novi Pazar und anderen Städten gingen die Menschen auf die Straßen, um an die Opfer zu erinnern. Auf der Autobahn nach Novi Sad kam zur Mittagszeit der Verkehr zum Erliegen, weil Fahrer für eine Gedenkminute anhielten. Schon in den vergangenen Wochen waren aus etlichen Landesteilen Studenten teils Hunderte Kilometer nach Novi Sad marschiert. Allein der Gedenkmarsch aus Belgrad umfasste mehrere tausend Teilnehmer. Auf ihrem Weg wurden sie mit Jubel, Feuerwerk und roten Teppichen begrüßt.
Präsident Aleksandar Vucic gedachte der Opfer bei einem Gottesdienst in Belgrad. “Heute zünden wir für jeden von ihnen eine Kerze an, beten in Stille und glauben, dass ihre Namen und Erinnerungen für immer in unseren Herzen bleiben werden”, sagte er. Am Vorabend hatte sich der mächtige Staatschef für seine bisherigen Äußerungen über die Protestbewegung entschuldigt. Vucic und mehrere Regierungsmitglieder hatten die Studenten zuletzt wiederholt als “Terroristen” beschimpft und ihnen vorgeworfen, die Regierung stürzen zu wollen.
Bei den Gedenk-Protesten am Samstag forderten Regierungskritiker erneut Rechenschaft für das tödliche Unglück. Natasa Govedarica, Serbien-Direktorin der deutschen Friedensorganisation Pro Peace, sprach von einer symbolträchtigen Kundgebung. “Es geht um mehr als Gedenken. Der Jahrestag steht für den kollektiven Ruf nach Gerechtigkeit, Verantwortung und demokratischer Erneuerung.”
Vor der Großkundgebung habe sie Hoffnung, Erwartungen und Entschlossenheit unter den Serben wahrgenommen. Auch Govedarica kritisiert, dass eine gründliche Aufarbeitung des Unglücks bisher ausgeblieben sei. Stattdessen habe die Regierung unter Vucic mit “noch größerer Repression” reagiert. So sei über das vergangene Jahr ein Klima entstanden, das Hassrede, die gezielte Verfolgung von Journalisten, Politikern und Aktivisten durch Verleumdungskampagnen und sogar physische Angriffe sowie Festnahmen begünstige.
Im September hat die serbische Staatsanwaltschaft zwar Anklage gegen den ehemaligen Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesic und zwölf weitere Personen erhoben. Die Bestätigung der Anklagen durch ein Gericht steht aber noch aus. Der Vorwurf lautet unter anderem: Gefährdung der öffentlichen Sicherheit.
Auch international waren die Blicke am Samstag auf Serbien gerichtet. Zu Gedenkveranstaltungen kam es etwa in München, Barcelona und Rom. Das Landesbüro der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Belgrad teilte mit: Man stehe an der Seite der Opfer und ihrer Familien. “In dieser Zeit der Trauer setzt sich die OSZE-Mission in Serbien weiterhin dafür ein, gemeinsam mit Institutionen und der Zivilgesellschaft die Rechte der Bürger zu schützen und Rechtsstaatlichkeit, Freiheiten und die Menschenrechte zu wahren”, hieß es weiter.
Das EU-Parlament hatte vorige Woche seine bisher schärfste Resolution zu Serbien verabschiedet. Darin kritisierten die Abgeordneten unter anderem eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und staatliche Repression gegen Demonstranten, Journalisten, Nichtregierungsorganisationen und Oppositionelle. Weiter forderten die EU-Parlamentarier Aufklärung über die Einsturzursache. Die Verantwortlichen müssten in einem “umfassenden und transparenten Gerichtsverfahren” zur Rechenschaft gezogen werden. Dazu sagt der österreichische EU-Abgeordnete Andreas Schieder (SPÖ): “Serbien steht vor einem politischen Umbruch, die Bevölkerung hat von Misswirtschaft, Korruption und Manipulation genug und will echte Demokratie.”