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„Wir sind Wikinger“

Kirchbootfahren schweißt Menschen zu schlagkräftigen Teams zusammen – eine gute Erfahrung

Mit großen Kirchbooten lieferten sich finnische Protestanten einst auf der Heimfahrt von Sonntagsgottesdiensten Wettkämpfe. Heute organisiert ein Speyerer Ruderverein Fahrten auf zwei nachgebauten Kirchbooten auf dem Altrhein.

Ein bisschen nervös sitzen die jungen Damen auf den Rollsitzen von „Charlie“, einem großen Holzboot. „Den Riemen am Griff nehmen, Ruderblatt auf gestellte Position bringen“, kommandiert Beate Wettling. „Und jetzt!“, ruft die Steuerfrau mit dem weißen T-Shirt, auf dem groß „Kirchboot“ steht. Wasser spritzt auf, die Ruder graben ins Dunkelgrün des Angelhofer Altrheins, der zwischen Speyer und Otterstadt liegt. Schon nach wenigen Metern haben die Ruderer auf wundersame Weise ihren Takt gefunden. Schnell gewinnt das mehr als zehn Meter lange Boot an Fahrt. Ein lautes „Juchhu“ schallt übers Wasser, alle sind im Rhythmus, ziehen gemeinsam in die gleiche Richtung.

Kirchbootfahren als Betriebsausflug

Auf zwei Bootsbesatzungen hat sich die rund 20-köpfige Mitarbeiterschaft des Anicura Kleintierzentrums Speyer an diesem heißen Sommertag spontan aufgeteilt: Kirchbootfahren steht auf dem Programm des Betriebsausflugs, sagt Tierärztin Julia Kremp, die die Praxis gemeinsam mit ihrem Mann Sven führt. In den Vorjahren wurde schon gemeinsam mit Eseln gewandert, eine Straußenfarm besucht, und das Team baute Flöße. Und jetzt eben Kirchbootfahren auf einer alten, ruhigen Rheinschlinge, rund zweieinhalb Kilometer vom reißenden Fluss entfernt.

„Natur und Tiere sind unser Ding“, sagt Sven Kremp. „Wir werden auf jeden Fall gewinnen“, spornt er seine Mitarbeiterinnen an. Rudererfahrung haben die meisten der jungen Tierärztinnen und Tierarzthelferinnen keine. „Ich bin schon im Fitnesscenter und in einem Gondelteich gerudert“, sagt die Mitarbeiterin Carmen grinsend. Tierärztin Kremp hingegen war schon einmal dabei bei der Kirchboot-Regatta, die die Rudergesellschaft Speyer 1883 seit 14 Jahren im Frühsommer mit großem Erfolg ausrichtet.

Zahlreiche Vereine, Unternehmen und andere Gruppen aus der Region messen bei dem bundesweit einzigartigen Spektakel dieser Art ihre Kräfte bei Ruderwettkämpfen. Zusätzlich bietet der rund 400 Mitglieder zählende Verein Fahrten in seinen beiden Kirchbooten „Konrad II.“ und „Charlie“ an. Die mehr als 300 Kilogramm schweren Boote bieten jeweils Platz für zehn Ruderer, eine Steuerperson gibt den Takt und die Fahrtrichtung vor. Die Boote – verkleinerte Nachbauten der Originale aus Okoumé-Sperrholz – liegen im neuen Bootshaus am Angelhofer Altrhein, der im Volksmund auch Reffenthal genannt wird.

Eher zufällig kam der Speyerer Ruderverein dazu, sich selbst sogenannte Kirchboote anzuschaffen, erzählt Norbert Herbel, Chef der Firma Kirchboot-Manufaktur in der Domstadt. Der Mittsiebziger ist ein begeisterter Ruderer, den die Geschichte der aus Skandinavien stammenden Kirchboote faszinierte: Um das Jahr 1640 kommt im gewässerreichen Finnland eine ganz besondere Tradition des Bootfahrens auf, erzählt er: In Anlehnung an die Langboote der Wikinger wurden bis zu 40 Meter lange Holzboote gebaut.

In erster Linie nutzten protestantische Kirchengemeinden in Finnland diese für Fahrten zu den sonntäglichen Gottesdiensten, weiß Herbel, der selbst Kirchboote gebaut hat und einen Wartungsservice anbietet. Die Gemeinden lagen weit verstreut und verfügten oft nur über schlechte Verkehrsverbindungen. Die Kirche förderte den Bau und die Instandhaltung der offenen Boote.

120 bis 150 Menschen fanden in dem stattlichen Bootstyp Platz, der von 30 bis 40 Ruderpaaren fortbewegt wurde. Nach den Gottesdiensten, so berichten es die Chronisten, machten sich die Kirchgänger gerne einen Spaß, griffen fest in die Ruder und lieferten sich Wettrennen. Die Boote dienten zudem für Umzüge sowie für Fahrten zu Hochzeiten, Kindstaufen, Konfirmationen und Begräbnissen. Bis heute veranstalten die Finnen begeistert Rennen mit Kirchboot-Nachbauten.

Auch hierzulande findet das Rudern in den schweren und doch wendigen Kirchbooten immer mehr Liebhaber, erzählt Martina Schott. Die Speyerer freie Unternehmensberaterin gehört dem Präsidium des Deutschen Ruderverbands (DRV) an, der bundesweit rund 80 000 Mitglieder in 550 Rudervereinen zählt. Der Rudersport sei bei jüngeren und auch älteren Menschen schwer im Kommen, versichert Schott. Um die Kasse ihres Clubs aufzubessern, hat sie Seminare zur Teamentwicklung erarbeitet. Unternehmen, Vereine oder auch Personengruppen können sie zubuchen bei ihren Kirchbootfahrten. Schätzungsweise acht weitere Vereine in Deutschland besitzen Kirchboote.

Sportlicher und sozialer Gedanke dominiert

Rudern mag für Menschen in früherer Zeit – etwa für antike Galeerensklaven oder Fährleute – eine Plackerei gewesen sein. Heute dominiert der sportliche und auch der soziale Gedanke: das Fördern von Teamgeist und des guten Miteinanders. Wer Boot fahren will, muss gemeinsam mit anderen in die gleiche Richtung ziehen, bringt es Schott auf den Punkt. Eine Besatzung, die aus Einzelkämpfern besteht, kommt nicht vom Fleck. Beim körperlich gesunden Rudern könnten sich „Teams neu bilden oder bestehende bei Krisen Lösungen für ihre Probleme finden“, sagt die Unternehmensberaterin. Besonders die Position von Frauen will sie im Rudersport stärken.

Die Diakonissen Speyer haben längst erkannt, dass sie Kirchbootfahren voranbringt. Schon elfmal waren Frauen und Männer des größten diakonischen Trägers in der Pfalz bei der Speyerer Kirchboot-Regatta dabei, an der sich diesmal 24 Teams beteiligten. In diesem Jahr belegte man in der Kategorie „Mixed Teams“ den ersten Platz, freut sich Pressesprecherin Barbara Fresenius. Das gemeinsame Training und der Wettkampf hätten „aus einer heterogenen Truppe eine schlagkräftige Einheit“ geformt. Den Mitarbeitenden aus verschiedenen Unternehmensbereichen werde als Bootsbesatzung die Idee „Einer für alle, alle für einen“ klar. Die Regatta-Teilnahme fördere den Zusammenhalt und erzeuge Motivation, sagt Fresenius.

Sina Vogelsang, die bei den Diakonissen im Bereich Qualitäts- und Risikomanagement zuständig ist, hat nun auch die Ruderleidenschaft gepackt. Die 26-jährige Leistungsschwimmerin fasste kräftig mit an und trug das Kirchboot in einer gemischten Mannschaft mit 26 Schlägen in 47 Sekunden über die 200-Meter-Distanz zum Sieg. Das Diakonissen-Team habe vor allem deshalb gewonnen, weil es sein Können gemeinsam eingesetzt habe, sagt Vogelsang. Kommendes Jahr will sie wieder auf der Ruderbank sitzen.

Rudern, besonders im Kirchboot, sei ein Teamsport, bestätigt Andreas Godel. „Es kommt hier weniger auf die reine Kraft des Einzelnen an als vielmehr auf ein koordiniertes Zusammenspiel aller“, sagt der 44-Jährige, der Leiter der Abteilung Controlling bei den Diakonissen ist. Dreimal saß er bei der Regatta für seinen Arbeitgeber bereits im Kirchboot. Je gleichmäßiger die Ruder im Einklang durch das Wasser glitten, desto höher werde dessen Geschwindigkeit, sagt er. Die jungen Tierärztinnen und Tierarzthelferinnen aus Speyer machen bei ihrem Kirchboot-Ausflug von Anfang an alles richtig. Sie beherzigen alle Ratschläge der erfahrenen Kirchboot-Lenker des Rudervereins: Niemand springt einfach rücksichtslos in die beiden Boote hinein. Man reicht sich gegenseitig die Hand, setzt sich vorsichtig hin, ohne zu ruckeln. Die beiden Steuerleute Beate Wettling und Andrea Vogel, die im Heck der Boote Platz genommen haben, sind zufrieden: Solche Ruderteams können nur erfolgreich sein.

Mit synchronem Ruderschlag ans Ziel

Jetzt wird noch ein wenig geübt. Denn zum Ende der mehr als zweistündigen Rudertour kreuz und quer über den Altrhein kommt noch das traditionelle Abschlussrennen. Mit synchronem Ruderschlag kommt man sicher ans Ziel, geben die Steuerleute ihren Bootsfrauen mit auf den Weg: „Immer auf den Popo des Vordermanns gucken, nicht auf das Ruder“, sagt Peter Gärtner, der im Kirchboot „Charlie“ auf die Bank des Steuermanns gewechselt ist.

Noch ein Schluck Wasser, durchgeatmet. „Und jetzt!“, feuern die beiden Steuerleute unisono ihre Teams an. Die Damen vom Kleintierzentrum ziehen kräftig an ihren Rudern, fast auf gleicher Höhe schießen „Konrad II.“ und „Charlie“ vorwärts, Nilgänse suchen das Weite. Nach ein paar Sekunden und 100 Metern ist alles vorbei. „Charlie“ hat es geschafft, mit Teamgeist. Noch ein lautes „Juchhu“, die Ruderinnen klatschen sich verschwitzt ab: „Wir sind Wikinger.“