Präsidentin, Regierungschefin, Bischöfin und Bürgermeisterin der Hauptstadt Reykjavik: In Island haben heute Frauen alle wichtigen Ämter inne. Doch schon am Ruhetag der Frauen 1975 kämpften diese für Gleichberechtigung.
Diese Bilder gingen in die Geschichte ein: ein Frauenmeer im Zentrum von Islands Hauptstadt Reykjavik, geschlossene Fischfabriken, ungeputzte Wohnungen, verwaiste Küchen – und zwar vor 50 Jahren. Es war der 24. Oktober 1975, an dem 90 Prozent der Isländerinnen – damals zählte die Insel im Nordatlantik rund 220.000 Einwohner – das ganze Land lahmlegten. Mit dem Kvennafridagurinn, dem Ruhetag der Frauen, wollten sie ungleiche und unfaire Bezahlung sowie Sexismus am Arbeitsplatz nicht mehr hinnehmen.
Der 24. Oktober ist bis heute vor allem isländischen Frauen in Erinnerung geblieben. “Meine Großmutter väterlicherseits, die 1918 geboren wurde, lebte damals auf dem Land und fuhr gemeinsam mit anderen Frauen in einem Bus nach Reykjavik”, sagt Valgerdur Palmadottir, Dozentin für den Fachbereich Lehrerausbildung an der Universität Akureyri, im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Es sei ein großes Ereignis gewesen. “Davor waren Frauen gewöhnlich nicht so politisch.”
Anders jedoch ihre Mutter, die damals 18 Jahre alt war. “Sie ging zu ein paar Veranstaltungen, war aber nicht zu enthusiastisch.” Später wurde ihre Mutter Soziologin und dann Professorin für Gender Studies. Eine Beobachtung von damals: So radikal war all das nicht.
Im Rahmen eines Wissenschaftsprojekts hat auch Palmadottir, die unter anderem zu sozialen Bewegungen, feministischer Philosophie und Theorie arbeitet, zum Ruhetag der Frauen geforscht. Sie beobachtet: “Um diesen Tag herum entstehen immer wieder neue Erzählweisen.” Tatsächlich wirkt diese Massenveranstaltung 50 Jahre später spektakulär und revolutionär.
Palmadottir betont verschiedene Aspekte, die damals zusammenfielen: 1975 war das von den Vereinten Nationen ausgerufene Internationale Jahr der Frau. Die isländische Frauenbewegung Red Stockings (dt.: rote Strümpfe) hatte sich bereits 1970 gegründet und jahrelang Vorarbeit für die Massenveranstaltung geleistet. Auch am 1976 verabschiedeten Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter war nicht erst seit 1975 gearbeitet worden. Und dass 1980 mit Vigdis Finnbogadottir erstmals eine Frau isländische Präsidentin wurde – und das gleich für 16 Jahre -, wurde weltweit zwar beachtet. Allerdings, so Palmadottir, handele es sich vor allem um ein repräsentatives Amt.
Trotzdem wird Island vor allem im Ausland als weltweiter Gleichberechtigungschampion betrachtet. Im März titelte die englischsprachige Zeitschrift “Iceland Review”: “Nun sind in Island alle Führungspositionen mit Frauen besetzt.” Damals war gerade bekannt geworden, dass Silja Bara Omarsdottir Rektorin der Universität von Island wird – als zweite Frau in der Geschichte der Forschungseinrichtung.
In anderen Ämtern sind Frauen längst eine Selbstverständlichkeit. So hat auch die isländische Staatskirche, die evangelisch-lutherisch ist, seit 2012 eine Bischöfin; seit 2024 Gudrun Karls Helgudottir. Sie ist bekannt für ihr Interesse an Mode. Noch während der Bischofswahl 2024 wurde ihr, so berichteten isländische Medien, geraten, sich weniger auffallend zu kleiden. Sie konterte: “Ich muss keinem bestimmten Bild entsprechen, nur weil ich Priesterin oder Bischöfin bin.”
Statistiken zur Gleichberechtigung sehen Island ebenfalls vorne. Im jährlichen Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums liegt das Land seit 2009 unangefochten auf Platz eins. Isländische Frauen verdienen im Schnitt 9,8 Prozent weniger als Männer, EU-weit sind es 12 Prozent und in Deutschland 17,6 Prozent. Auch Elternzeit müssen isländische Mütter und Väter ausgewogener nehmen als in Deutschland üblich.
Expertin Palmadottir betont jedoch: Ranglisten wie diese können irreführend sein. Beispielsweise werde geschlechterbasierte Gewalt in Island nicht erfasst, ebenso eine ungleiche Verteilung der Haus- und Care-Arbeit. Ein weiterer Nachteil: Wenn sich das Land allzu fortschrittlich wähne, könnten weitere Entwicklung mit dem Hinweis auf das bereits Erreichte ausbremsen. “Ihr habt doch schon alles, heißt es dann.”
Eins wird in Island aber deutlich: Es gibt durchaus Solidarität unter Frauen, etwa im Alltag in zahlreichen privat organisierten Gruppen, aber auch dann, wenn Frauen mal wieder für ihre Rechte auf die Straße gehen. Der Kvennafridagurinn war tatsächlich nur der Auftakt. Fortsetzungen gab es mehrere, letztmals 2023. Wieder legten Zehntausende – erstmals ausdrücklich Frauen mit Migrationshintergrund und nicht-binäre Personen, also ohne ausschließlich männliche oder weibliche Geschlechtsidentität – das Land lahm; erstmals als Frauenstreik. “Die Atmosphäre war sehr positiv”, sagt Palmadottir.
Das große Interesse an der Veranstaltung zeigte auch: Trotz guter Statistiken und Frauen in Führungspositionen ist Gleichberechtigung kein fertiger Zustand. Auch in Island muss sie immer wieder neu ausgehandelt werden.