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Wie Gott zur Welt kommt

Worum geht es in Evangelien? Der Neutestamentler Klaus Wengst hat dieser Frage ein Buch gewidmet. Seine These: Im Wort der Evangelien und in deren Auslegung wird Gott wirklich

Da ist ein Mann, der von sich sagt, Gottes Sohn zu sein. Er verkündigt eine radikale Botschaft von Gottes Liebe, er heilt und tut Wunder. Die Menschen sehen in ihm den verheißenen Messias – bis er schändlich am Kreuz stirbt. An dem Punkt ist für die meisten klar: Dieser Jesus war nicht der Messias.
Und doch sind da einige, die etwas anderes sagen, die von Auferstehung sprechen und davon, dass Jesus im Geist immer noch bei ihnen ist. Aus ihren Gemeinden heraus entstehen gegen Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus die Evangelien. Aber was genau wollen sie sagen?
Mit dieser Frage beschäftigt sich Klaus Wengst, bis zu seinem Ruhestand 2007 Professor für Neues Testament in Bochum, in seinem Buch „Mirjams Sohn – Gottes Gesalbter“. Was die Evangelien seiner Ansicht nach wollen, ist: in Jesus Christus von einem Menschen erzählen, in dem Gott zur Welt kommt – und das nicht als Tatsache der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. Was sie nicht wollen: einen historischen Bericht des Menschen Jesus von Nazareth abliefern.
In den Evangelien „kommt Gott zum Zuge“, wie Wengst formuliert, und darüber hinaus: „Die immer wieder neu zu stellende und zu beantwortende Frage ist nicht, wer Jesus wirklich war, sondern wie er jeweils durch verantwortungsvolle Auslegung – in all ihren Formen – zur Wirkung kommt und so wirklich wird.“
Detailliert geht Wengst durch die Evangelien und erklärt Begriffe und Themen, die für den jeweiligen Evangelisten besonders wichtig sind. Dabei ordnet er sie ein in den Zusammenhang der jüdischen Schriften, die für die Menschen, für die die Evangelien geschrieben wurden, selbstverständlich immer mitklangen: Es waren Juden, die sich nicht als Anhänger eines neuen Glaubens verstanden, sondern den Glauben an Jesus als Konsequenz ihres Judeseins empfanden.
Wengst betrachtet die Evangelien daher ebenfalls als ursprünglich jüdische Schriften, die sich vor allem um die Frage nach dem scheinbaren Scheitern Jesu am Kreuz drehen. Diese Frage wird in allen vier Evangelien so beantwortet, dass gezeigt wird: Das Kreuz war eben kein Scheitern; Gott hat Jesus durch den Tod hindurch zur Auferstehung gebracht und sich gerade dabei in ihm offenbart. Auf diese Weise wurde die Schrift erfüllt. „Wer Jesus ist, kann nicht verstanden werden, abgesehen von seinem Tod am Kreuz und von seiner Auferweckung. Dieses Zeugnis und die jüdische Bibel sind also die beiden tragenden Voraussetzungen (…)“, so Wengst.
Die Evangelien sind also gerade nicht die Lossagung vom Judentum, sondern im Gegenteil der Versuch, die Ereignisse um Jesus in die jüdische Tradition einzubetten. Die Frage, wie genau der Schritt von der innerjüdischen Interpretation des Jesus-Geschehens hin zu seiner Öffnung für die Völker, also die Nichtjuden, erfolgte, lässt Wengst allerdings offen.
Klaus Wengst hat ein Buch geschrieben, in dem er die Summe seiner Forschungen zu den Evangelien zusammenfasst und dabei besonders den Aspekt der Kontinuität zum Judentum betont. Es ist ein wissenschaftliches Buch, weil es mit wissenschaftlichen Methoden an die Bibeltexte herangeht und sie auf ihre Kernaussagen hin untersucht. Aber es ist kein Buch für Wissenschaftler, sondern für interessierte Laien, verständlich geschrieben und auch ohne Kenntnisse lesbar – allerdings braucht man angesichts der Detailfülle etwas Durchhaltevermögen. Auch als Nachschlagewerk ist das Buch hilfreich: Am Ende gibt es ein Verzeichnis der Bibelstellen und der jüdischen Schriften, die besprochen werden.