Schlaflos, schlapp, ausgebrannt: Der neue Roman von Tamar Noort erzählt von Erschöpfung, Einsamkeit – und stiller Rebellion. Im Interview erklärt sie, warum Müdigkeit kein individueller Makel ist.
Sina findet nachts keine Ruhe, darum geht sie für eine Nacht ins Schlaflabor – und begegnet Janis, der Nachtwache, die bewusst aufbleibt. Zwischen den beiden Frauen wächst eine ungewöhnliche Verbindung, und wie diese Nacht alles verändert, davon erzählt der Roman “Der Schlaf der anderen”, der am Dienstag erscheint. Autorin Tamar Noort sieht im Umgang mit Schlaf viel mehr als ein persönliches Problem. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht die preisgekrönte Schriftstellerin über Produktivität und Erholung, Nickerchen und Tracking-Apps.
Frage: Frau Noort, in Ihrem neuen Roman geht es um Schlaf und Schlafprobleme. Warum?
Antwort: Der Schlaf und ich gehören schon lange zusammen. Ich habe immer wieder Phasen erlebt, in denen ich schlecht schlafe. Zudem habe ich während des Studiums im Schlaflabor gearbeitet: Dadurch kenne ich auch die andere Seite, das Wachbleiben, weil man eine Aufgabe hat. Diese Konstellation findet sich im Buch wieder: Eine Person, die nicht schlafen kann – und eine, die nicht schlafen darf, treffen aufeinander. Ich halte Schlaflosigkeit nicht für ein rein persönliches Thema, sondern eines mit struktureller Ebene.
Frage: Wie schreibt man über Müdigkeit, ohne dass der Text zum Abdriften verleitet? Oder wäre es nicht so schlimm, wenn jemand mit dem Buch auf dem Schoß einnickt?
Antwort: Ich wünsche mir natürlich eher, dass die Leute nicht einschlafen beim Lesen (lacht). Aber in der Tat spiegelt der Text mein eigenes Verhältnis zum Schlaf. Natürlich blicke ich durch einen fiktionalen Filter, aber der Text basiert schon auf eigener Erfahrung. Insofern gab es viele Phasen im Schreibprozess, in denen ich kondensieren musste, weil es so viel gab, das ich sagen wollte.
Frage: In früheren Zeiten war es üblicher, nachts etwa zum Lesen oder Beten wach zu sein. Heute sehen wir darin ein Alarmzeichen. Gab es für Sie überraschende Erkenntnisse?
Antwort: Die meisten Menschen halten Schlaflosigkeit für ein individuelles Problem. Aber allein an der Tatsache, dass Schlaflosigkeit zunimmt und immer mehr Menschen darunter leiden, sieht man, dass es nicht nur medizinische Aspekte hat, sondern auch gesellschaftliche.
Frage: Welche?
Antwort: Guten Schlaf muss man sich leisten können. Es ist nicht trivial, dass es dafür beispielsweise eine geräuscharme Umgebung braucht. In unsicheren Gegenden wird schlechter geschlafen als in sicheren Gegenden. Auch schlafen Frauen schlechter als Männer, obwohl sie eigentlich bessere Voraussetzungen hätten, weil sie sich in der Regel gesünder ernähren, weniger Übergewicht haben und weniger Alkohol trinken. Das heißt, gesellschaftliche Ungleichheiten spiegeln sich in der Verteilung von gutem Schlaf.
Frage: Was folgt daraus?
Antwort: Daraus folgt, dass Schlaf auch ein politisches Thema ist. Wer darf gut schlafen? Wer findet Ruhe und wer nicht? Von wem erwarten wir, dass er funktioniert? Die Gesellschaft spricht Belohnungen dafür aus, wenn jemand besonders wenig Schlaf braucht. Wenn wir müde sind, sagen wir das lieber nicht, weil wir nicht als schwach oder weniger leistungsfähig gelten wollen.
Frage: Sina beschreibt dies im Buch als “Grind Culture”: unermüdlicher Einsatz bei konstanter Produktivität.
Antwort: Die 24-7-Taktung sieht letztlich keine Pausen mehr vor, alles soll immer reibungslos funktionieren. Der menschliche Schlaf stört dabei, macht uns zu Mängelwesen. Dieses Wesensmerkmal des Kapitalismus ist im Zuge der Industrialisierung entstanden: Die Taktung unseres Lebens richtet sich nach der Arbeit, nicht nach Grundbedürfnissen. Das Grundbedürfnis ist, zu schlafen, wenn wir müde sind – nicht, wenn wir 16 Stunden wach waren. Eigentlich müssten wir Schlaf behandeln wie Hunger oder Durst. Aber wir tun so, als könnten wir ohne ihn auskommen oder mit sehr wenig.
Frage: Momentan wird vielmehr darüber debattiert, was als Arbeit gilt, nach der man eine Pause “verdient” hat.
Antwort: Die Tatsache, dass Frauen schlechter schlafen als Männer, hat auch damit zu tun, dass sie oft noch mit Care-Arbeit und Mental Load konfrontiert sind. Wenn der Kopf nie zur Ruhe kommt, läuft er eben auch nachts weiter. Hinzu kommt, dass Schlafprobleme oft nicht richtig ernstgenommen werden: Wenn man gefragt wird, wie man geschlafen hat, und sagt “gar nicht gut” – dann wird man ja nicht nach Hause geschickt oder bekommt eine längere Pause. Man muss trotzdem den Tag hinter sich bringen.
Frage: Wie könnten wir den Umgang mit Ruhe bzw. Ruhe-Defiziten verbessern?
Antwort: Indem wir es uns bewusst machen, und versuchen, diese Ungleichheit aufzuheben. Dafür müssen wir die Räume schaffen, die wir brauchen. In Japan gibt es den Begriff Inemuri für gesunden “Zwischenschlaf”: sich zwischendurch einmal kurz von der Welt abzukapseln. Bei uns ist das Schlafen in der Öffentlichkeit eher verpönt. Vielleicht braucht es also einen Akt der Rebellion – so wie bei Sina im Buch.
Frage: Zugleich tracken immer mehr Leute auch ihren Schlaf. Ist das nicht ein Widerspruch zur Tabuisierung?
Antwort: Ich sehe darin eher zwei Seiten der gleichen Medaille. Mit Tracking-Apps und Schlafhygiene versuchen wir, auch den Schlaf zu optimieren: Wie viele Stunden hast du im Tiefschlaf verbracht? Wann bist du ins Bett gegangen, hast du auch die richtige Matratze? Deine Decke ist zwei Gramm zu leicht. All das macht Schlaf zu einer Leistung, die wir zu erbringen haben – möglichst mit voller Power.
Frage: Der aktuelle Roman ist keine Fortsetzung Ihres Debüts. Sehen Sie dennoch wiederkehrende Themen?
Antwort: In beiden Romanen geht es darum, dass Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. Sina hat sich Orientierungspunkte geschaffen, indem sie alles so gemacht hat, wie es von ihr erwartet wurde: Sie hat einen guten Job, ist verbeamtet, hat eine Familie gegründet, ein Haus gebaut und muss sich keine Sorgen um die Rente machen. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondern dann fängt die Persönlichkeitsentwicklung erst an. Ich glaube, dass es sich lohnt, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, was man braucht, um den Geist lebendig zu halten.
Frage: Das will auch der zweiten Hauptfigur Janis nicht recht gelingen …
Antwort: Beide Figuren erleben eine große Einsamkeit. Sina ist einsam in ihrer Familie, weil sie vor lauter Erschöpfung nicht mehr in der Lage ist, Verbindungen zu den Menschen aufzubauen, die sie liebt. Janis hat sich mit einer Art Selbstschutzmechanismus von der Welt abgekapselt. Sie hat Schwierigkeiten damit, zu erkennen, wie viel Nähe angemessen und erlaubt ist – auch, weil sie nachts arbeitet und tagsüber schläft. Sie fällt also aus der Taktung ihrer Umgebung heraus. Auch das ist ein strukturelles Thema.
Frage: Haben Sie Social Media, die oft für Einsamkeit und Stress verantwortlich gemacht werden, bewusst ausgeklammert?
Antwort: Nein, den Zusammenhang sehe ich gar nicht so stark. Ich wäre auch vorsichtig damit, einen Schuldigen auszumachen. Die Konzentration von Menschen auf den kleinen Bildschirm ist vielleicht eher ein Symptom der Vereinsamung einer Gesellschaft. Soziale Medien können Menschen abholen in ihrem Gefühl, allein in einer Welt zu sein, die nicht mehr auf ihre Bedürfnisse achtet. Da wird das Scrollen als Möglichkeit, sich herauszuziehen, fast eine Ersatzhandlung für Meditation.
Frage: Haben Sie inzwischen ein Geheimrezept für erholsamen Schlaf?
Antwort: Ein sehr gutes Buch lesen und rechtzeitig das Licht ausmachen (lacht). Nein, ich glaube, das ist sehr individuell. Wichtig ist aber, nicht zu lange zu warten, bis man Hilfe sucht. Manche Menschen sagen, ich schlafe seit Jahren schlecht, das gehört eben zu mir. Doch es ist nicht gut für uns, langfristig schlecht zu schlafen, also sollte man dagegen etwas tun.