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Wenn pornografische Videos eine echte Beziehung verhindern

Stundenlang Pornos schauen, mitten im Job? Was wie ein Klischee klingt, wird für manche Menschen zu einer Sucht – mit drastischen Folgen. Fachleute erklären, wann es kritisch wird.

Herr L. ist Bauzeichner, 31 Jahre alt, verheiratet. Was kaum jemand weiß: Seine Frau ist seine erste Partnerin überhaupt, mit 28 Jahren hat er sich erstmals auf eine Beziehung eingelassen. Und: In der Ehe kriselt es. Denn seit seinem zehnten Lebensjahr schaut Herr L. Pornos. Viele Pornos. Drei bis vier Stunden am Tag, auch während der Arbeitszeit. Wegen Erektionsstörungen und Schwierigkeiten in der Partnerschaft möchte er nun eine Therapie anfangen.

Herr L. ist ein typischer Patient von Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften in Gießen. Als einer der der deutschen Experten für Sucht und Pornografie-Konsum hält Stark es für realistisch, dass etwa drei Prozent der regelmäßig konsumierenden Männer an einer pornografischen Nutzungsstörung erkranken; bei Frauen liege dieser Wert bei unter einem Prozent.

97 Prozent entwickeln also keine Störung, betonte Stark unlängst beim Deutschen Psychotherapie-Kongress. Für Betroffene habe sie jedoch drastische Konsequenzen: Herr L. beispielsweise empfindet partnerschaftliche Sexualität als anstrengend, hat keine rechte Lust darauf, sich auf ein Gegenüber einzustellen.

Offen sei, “was noch kommt – angesichts von Künstlicher Intelligenz, Virtual Reality und humanoiden Robotern”, so der Psychologe. Auch berichteten zunehmend Menschen von suchthaftem Dating-Verhalten: Sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue, suchten aber dennoch online Sexualpartner, nicht selten mit großen Risiken.

Klar ist, dass Pornografie-Konsum deutlich niedrigschwelliger geworden ist. In jüngeren Befragungen geben fünf Prozent der Männer an, nie entsprechendes Material zu konsumieren, bei den Frauen sind es 27 Prozent. 80 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen konsumieren dagegen regelmäßig – weit überwiegend Videos; bei Frauen machen Texte den zweithöchsten Anteil aus.

Pornografische Reize wirken laut Hirnscans biologisch so stark, dass Menschen hinschauen – selbst wenn sie nicht wollten oder etwa in einer depressiven Phase kaum ansprechbar für Erotik sind. Krankhaft Nutzende reagieren in Experimenten sogar stärker auf diese Reize als auf Geldgewinne: “Ihr Belohnungssystem hat sich darauf ausgerichtet”, sagt Stark.

Typischerweise beginne dieser Konsum mit 13, 14 Jahren und steigere sich bis zur Volljährigkeit “auf das Maximum”, erklärt der Experte. Die Wahrnehmung der Jugendlichen lasse sich so zusammenfassen: “Die Schule war doof, doch das ganze Internet steht offen – wow. Dort ist es aufregend, man fühlt sich lebendig.” Diese positiven Effekte seien allerdings kurzfristig. Bei einer Nutzungsstörung drohten langfristig depressive Symptome bis hin zu Suizidversuchen. Betroffene schämten sich, manche bekämen Probleme im Job oder rechtliche Schwierigkeiten, weil sie “neue Kicks” gesucht hätten, die legale Grenzen überschritten.

Im ICD-11, dem Klassifizierungskatalog der Weltgesundheitsorganisation WHO, der derzeit auch in Deutschland implementiert wird, wird die früher sogenannte Pornosucht als zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung gelistet. Stark begrüßt diesen Schritt “raus aus der Schmuddel-Ecke”. Zentral für eine Diagnose sei Kontrollverlust; Therapien zielten meist eher auf eine Reduzierung des Konsums ab, da die Rückfallquote bei völliger Abstinenz hoch sei.

Jugendliche müssten so stark gemacht werden, dass sie frei entscheiden könnten, ob sie einen Porno schauen möchten oder es lieber sein lassen, sagt der Medienpädagoge Andreas Büsch. Wenn sie ungewollt und zu früh mit Pornografie in Berührung kämen, könne das zu Überforderung, Verstörung oder sozial-ethischer Desorientierung führen. “Sie könnten denken, das Dargestellte sei normal und die Realität.”

Büsch wirbt für offene Gespräche, auch wenn dies innerhalb der Familie nicht einfach sei. Eltern in dieser Hinsicht sprachfähig zu machen, sei enorm wichtig: “Wir brauchen mehr qualifizierende Maßnahmen, auch für junge Menschen.” Wichtig sei zudem anzuerkennen, “dass Pornografie ein gesellschaftliches Phänomen ist und verfügbarer denn je.”

Offenheit bei diesem Thema sei aber auch unter Erwachsenen nicht selbstverständlich, beobachtet die Paartherapeutin Ursina Donatsch. “Frauen empfinden ihr eigenes Pornoschauen oft als unproblematisch, während sie den Konsum ihres Partners schwieriger finden”, sagte Donatsch der Zeitschrift “Psychologie Heute”. Bei Männern sei es umgekehrt: “Sie haben eher ein schlechtes Gewissen bezüglich ihres eigenen Konsums, finden aber das Pornoschauen ihrer Partnerin aufregend.”

Dies könne zu einer Negativspirale aus Heimlichkeit und Scham führen, warnt Donatsch. Wer miteinander spreche, könne dagegen Vorlieben entdecken und Unsicherheiten aus dem Weg räumen: “Oft besteht nämlich ein Missverständnis, dass das, was im Porno geschaut wird, den realen Wünschen für den gemeinsamen Sex entspricht.” Ist dies der Fall, kann es auf eine krankhafte Nutzung hindeuten. Stark: “Unter Stress kann schon der Laptop, an dem stundenlang konsumiert wurde, eine Versuchung darstellen.”