Dass die Digitalität ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft und unseres Alltags geworden ist, steht außer Frage. Dass die Digitalität aber nicht unumstritten und ohne Regeln ihre Einkehr in unser Leben halten kann, sollte auch außer Frage stehen. Nachdem sowohl die Kirche als auch die Schule gegenüber der digitalen Welt zunächst sehr zurückhaltend waren, hat diese einen unreflektierten Einzug in unser Alltagsleben gehalten.
Familien und Schülerinnen und Schüler waren in diesen Fragen sich selbst überlassen. Sie haben sich im Netz sozusagen selbst sozialisiert. Sie haben den Umgangston und die Unarten der in den sozialen Netzwerken vorherrschenden Umgangsformen angenommen und für sich adaptiert. Sie probieren sich dort aus und selbstverständlich tun sie das in der vorgefundenen sozialen Form.
Das können wir ihnen nicht vorwerfen, denn wir wissen aus der analogen Welt, dass die im Milieu benutzten Benimmformen kopiert werden. Jetzt gilt es aber, diesem Trend ernsthaft und gezielt entgegenzusteuern. Denn die Nutzung der digitalen Möglichkeiten geht weit über den Freizeitbereich hinaus und ist in der beruflichen Welt fest etabliert. Dort jedoch gelten ganz andere Verhaltensweisen.
In der Schule ist das Fach der Religionslehre mit einem bedeutenden Auftrag versehen. Stets werden RU-Lehrkräfte als diejenigen angesehen, die für die Wertevermittlung stehen, denen die Fragen der Ethik und Moraltheologie in die Wiege ihres Faches gelegt sind.
Das ist manchmal beschwerend, hat aber im digitalen Zeitalter auch einen speziellen Reiz. Die sich ständig erweiternden Möglichkeiten fordern eine permanente Auseinandersetzung auf der Grundlage von Normen, Regeln und Werten. Es ist an der Zeit, das gemeinsame Leben in der digitalen Welt auf einer ernsthaften Ebene, nämlich der des Lernens, zu gestalten. Hier müssen andere, verbindliche und wertschätzende Etikette angewandt werden, sonst können Schülerinnen und Schüler nicht miteinander konstruktiv kommunizieren und lernen.
Von daher bietet es sich an, dass im RU die „Nettikette“ der Schule erarbeitet und vereinbart werden. Nettikette beschreiben die Umgangsformen im Internet. Dringend ist es anzuraten, dass Schulen diese nicht aus dem Internet „kopieren“, sondern für sich „neu“ erstellen.
Denn erst dann, wenn sich Schülerinnen und Schüler und Lehrerkräfte gemeinsam miteinander auf Regeln des Miteinanders im Netz verständigt haben, werden diese zu „unseren“ Abmachungen, unseren Gewohnheiten der digitalen Kommunikation. Diese Chance sollte sich der RU nicht entgehen lassen und für die gesamte Schule diesen Auftrag einfordern und annehmen.
Über diesen großen Aspekt hinaus wird der RU nicht daran vorbeikommen, die ethischen Dimensionen der digitalen Welt immer wieder altersgemäß zu thematisieren. Denn es kann ja nicht angehen, dass man zum einen sich im schulischen Kontext sicher und verlässlich im Netz miteinander bewegt, aber in der außerschulischen Netzwelt vielleicht verletzend und abwertend miteinander umgeht. Dies ist aber nur ein Aspekt.
Viel weitreichender sind die inhaltlichen Auseinandersetzungen mit den wirtschaftlichen Praktiken der digitalen Großkonzerne. Es gilt im Unterrichtsgeschehen immer wieder auch Beispiele aus der digitalen Welt für ethisch relevantes Handeln mit aufzunehmen. Zudem sind im letzten Jahrzehnt ständig neue Werte betreffende Themen entstanden, die uns zeigen, wie aktuell eine stetige ethische Reflexion des eigenen Handelns und Lebens ist. Fragen wie das Recht auf das eigene Bild / Foto, ebenso die Frage nach dem Besitz von personenbezogenen Daten oder ganz aktuell die Frage nach dem „digitalen Erbe“. Hinzu kommen die Aspekte, welche Schlüsse Krankenversicherungen, Banken und Unternehmen aus digitalen Datenbanken über einzelne Menschen ziehen dürfen und wie gläsern der Mensch der Zukunft sein sollte oder ob uns das gar nichts mehr ausmachen wird, wenn alle alles über alle wissen.
Aus unserer Sicht darf man Jugendliche hier nicht mit pauschalen und unreflektierten Meinungen allein sich selbst überlassen. Sie sollten sich angeleitet und nachhaltig mit den Anforderungen der digitalen Welt an ihre Person auseinandersetzen. Dazu brauchen sie Lehrerinnen und Lehrer, die ihnen als Vorbilder dienen und ihnen differenzierte Betrachtungsweisen ermöglichen und sie mit solchen konfrontieren. An dieser Stelle erscheint der RU als ein Fach mit einer immensen integrierenden Kraft.
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Wenn alle alles über alle wissen
Die Welt ist unwiederbringlich digital geworden – mit allen Vor- und Nachteilen und auch Gefahren, die das mit sich bringt. Für den evangelische Religionsunterricht liegen hier Chancen als integrierendes digitales Unterrichtsfach