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Weg vom “ewigen Migranten”

Es sind Geschichten wie die von der „Meyer Uhrenwerkstatt“ in Istanbul, die im TAM Museum künftig erzählt werden. Der Gründer Johann Meyer (1843-1920) war ein in Berlin ausgebildeter Uhrmacher. Im Jahr 1876 zog er nach Istanbul, dem damaligen Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, und wurde offizieller Uhrmacher am Sultans-Palast. Er fertigte und reparierte alle Uhren im Palast sowie die der Prinzen und Prinzessinnen, der hohen Beamten, Generäle und Minister. Zwei Jahre später gründete Johann Meyer die „Meyer Uhrenwerkstatt“. Er eröffnete sein Geschäft am 1. Mai 1878 direkt vor der Haltestelle der neuen Istanbuler U-Bahn, die den Stadtteil Karaköy mit Galata verband.

Die Werkstatt wurde über Generationen von Kindern und Enkeln weitergeführt. Unter dem Namen Meyer Objects gibt es sie bis heute in der türkischen Metropole. Eine 86-jährige Nachfahrin der Familie Meyer lebt wieder in Berlin und hat Gülsah Stapel kürzlich ihre Geschichte erzählt.

Die in Lübeck geborene Kulturforscherin mit Spezialgebiet Identität und Kulturerbe arbeitet seit 2020 als Kuratorin bei der Stiftung Berliner Mauer. Die Idee, dass die Zeit reif ist für ein türkisch-deutsches Museum in Deutschland, kam der 42-Jährigen im Februar 2024, wie sie berichtet. Das Museum soll eine bisherige Leerstelle in der bundesdeutschen Wissens- und Geschichtslandschaft füllen. „Über deutsch-türkeistämmige Verbindungen lässt sich weit mehr entdecken und erzählen, als viele vermuten“, sagt Gülsah Stapel. Gezeigt werden soll die ganze Vielfalt der Verbindungen zwischen Deutschland und der Türkei.

Seit mehr als 500 Jahren gebe es zwischen beiden Ländern einen vielfältigen Austausch, ob in Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur, Musik oder im Alltag. So war die erste Frau mit einem Schmuckhund in Berlin eine türkische Entrepreneurin namens Rebia Tevfik Basokcu (1871-1945). Die Modedesignerin unterhielt in den 1920er Jahren ein Modeatelier in der Budapester Straße.

Oder die Geschichte des Literaturprofessors, Romanisten, Übersetzers und Malers Traugott Fuchs. Der 1906 im Elsass geborene Pfarrerssohn emigrierte 1934 aus Nazi-Deutschland in die Türkei. Als Exilant trug er maßgeblich zum Aufbau der Lehre in deutscher Literatur- und Sprachgeschichte an den Istanbuler Universitäten bei. Fuchs lebte und arbeitete bis zu seinem Tod in der Türkei. Er starb 1997 in Istanbul.

Bislang werde die gemeinsame deutsch-türkische Geschichte in Deutschland häufig nur auf die türkische Community und türkischen Gastarbeiter reduziert, sagt Stapel. Diese würden noch immer als „ewige Migranten“ angesehen. Dabei seien die mehr als drei Millionen Menschen mit türkischem Familienhintergrund heute in Deutschland ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft – „eine sichtbare Minderheit, die ihre Zukunft gestalten will und gestaltet“, wie sie sagt.

In der vor sechs Jahren aus der Türkei nach Berlin gezogenen 48-jährigen Szenografin und Innenarchitektin Müge Avar fand Gülsah Stapel eine Mitstreiterin für die Museums-Idee. Dazu kommen weitere Unterstützerinnen und Helfer, die das Museums-Projekt ehrenamtlich vorantreiben. Darunter sind Museumsfachleute, Historiker, Kuratorinnen, Künstler und Anwältinnen, Architekten, Autorinnen und Sammler.

Der Museums-Name TAM bedeutet im Türkischen „ganz“ oder „genau so“. „Im TAM Museum stellen wir Geschichten in den Mittelpunkt, die sonst immer als Ausnahme an den Rand gedrängt werden“, erklärt Stapel.

In einer Crowdfunding-Kampagne wurde von mehr als 100 Spendern ein erstes Startkapital eingesammelt und mit unentgeltlicher Unterstützung einer Anwaltskanzlei eine gemeinnützige gGmbH als Rechtsform für das Projekt geschaffen. „Jetzt startet die nächste Phase“, sagt Gülsah Stapel. Via Spendenplattform betterplace wird um weiteres Geld unter anderem für den Aufbau einer Sammlung, Datenbank und Bibliothek und für ein Zeitzeugenarchiv geworben. Zudem hoffen die Museumsgründerinnen auf größere Spenden und Sponsoren aus Wirtschaft und Gesellschaft.

Inhaltlich plant das TAM-Team erste digitale und Pop-up-Ausstellungen, unter anderem über die türkische Malerin und Sammlerin Melek Lampé (1896-1976) aus München. In drei Jahren, so der Plan, soll das Museum dann in Berlin einen festen Ort haben. Als neuer Treffpunkt, der Menschen unterschiedlicher Herkunft und Familiengeschichten miteinander verbindet.