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Was wäre Weimar ohne Goethe? – Folgenreiche Ankunft vor 250 Jahren

Vor 250 Jahren kam Goethe erstmals nach Weimar – und blieb. Das war alles andere als wahrscheinlich. Der Dichter prägt Stadtgeist und Tourismus bis heute. Warum die Geschichte ohne ihn anders verlaufen wäre.

Fragt man die Google-KI, was Weimar ohne Johann Wolfgang von Goethe wäre, lautet die Antwort: Eine kleine Stadt wie jede andere. Die Antwort von Oberbürgermeister Peter Kleine klingt da weitaus poetischer: “Weimar ohne Goethe wäre wie ein Gedicht ohne Worte.” Hätte sich Goethe vor genau 250 Jahren nicht für Weimar als seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt entschieden, wäre die thüringische Stadt ein wenig bedeutendes Residenzstädtchen mit meist bäuerlicher Prägung geblieben, ist Kleine überzeugt.

Goethes Präsenz in Weimar war laut Kleine die Initialzündung für alles, was seither den Genius Loci und die geistige Anziehungskraft der Stadt ausmache. Die Zeit der bedeutenden Literaturepoche Weimarer Klassik, die Goethe maßgeblich zusammen mit Friedrich Schiller, Christoph Martin Wieland und Johann Gottfried Herder prägte, markiert den Ausgangspunkt für vieles Weitere. Seitdem zieht Weimar alle möglichen Geistesgrößen an. 1919 trat hier die verfassungsgebende Nationalversammlung zusammen, um den Übergang von der Monarchie zur Republik zu gestalten. Im selben Jahr wurde das Staatliche Bauhaus von Walter Gropius in Weimar gegründet.

Nicht immer lässt sich Geistesgröße in barer Münze aufwiegen. In Weimar schon. Ohne Goethe würde der Stadt ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor fehlen, sagt Oberbürgermeister Kleine. Jährlich kämen rund vier Millionen Touristen in die Stadt mit ihren 66.000 Einwohnern. Fast 800.000 Übernachtungen verzeichneten die Hotels im vergangenen Jahr.

Stadtführer Uwe Butze lacht: “Ich habe auch schon Führungen gemacht, da fiel das Wort Goethe erst nach zweieinhalb Stunden.” Seit 1999 zeigt er Touristen die Stadt. Er kann sich durchaus Rundgänge durch Weimar auch ganz ohne Goethe vorstellen. Die Reformationszeit, das Wirken von Franz Liszt und Friedrich Nietzsche, das Bauhaus und auch die dunkle NS-Zeit mit dem nahen KZ Buchenwald und der Firma Topf & Söhne, bekannt als “Ofenbauer von Auschwitz”, bieten reichlich Stoff.

Doch zugleich sagt Butze: “Wenn Goethe nicht nach Weimar gekommen wäre, dann wären all die anderen nicht gekommen. Dann wäre die Geschichte anders verlaufen. Als er nach Weimar kam, war er schon jemand, ein berühmter Dichter – und hat dann gewirkt wie ein großer Magnet.” Damals hatte Goethe bereits “Götz von Berlichingen” und “Die Leiden des jungen Werther” veröffentlicht. Mit Goethe habe für Weimar eine ganz neue Zeitrechnung begonnen, so Butze: “Das war ein Glücksfall – sonst wäre Weimar wohl ein Provinznest geblieben.”

Dabei standen die Chancen, dass Goethe in Weimar bleibt und heimisch wird, eigentlich eher gering, erzählt der Stadtführer. Als der damals 26-Jährige am 7. November 1775 frühmorgens erstmals in Weimar aus der Kutsche stieg, bot sich ihm vermutlich ein wenig einladender Anblick: morastige Straßen, herumlaufende Hühner und die Reste des im Vorjahr abgebrannten Residenzschlosses. Der Dichter beschrieb es als “greuliche Ruinen”. Der Hof residierte in Ausweichquartieren, der Mietmarkt war deswegen angespannt. Im Vergleich zu Goethes Heimatstadt Frankfurt war Weimar sehr klein und dörflich geprägt.

Was also führte den Nationaldichter überhaupt dorthin? “Er hatte Lust auf Freiheit und auf Neues, war neugierig, wollte gestalten. Er blieb, weil er hier einen Ort fand, an dem Denken, Kunst und Leben zusammengehörten”, sagt Ulrike Lorenz, Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Die Voraussetzungen dazu habe Herzogin Anna Amalia geschaffen.

Ihre Söhne, die Prinzen Carl August und Constantin, hatten Goethe einige Monate zuvor in Frankfurt besucht. Man war sich auf Anhieb sympathisch, schmiedete Pläne, dass Goethe vielleicht am Hof als Dichter und Minister wirken könne, war er doch auch studierter Jurist. Liebeskummer und ein dominanter Vater daheim dürften das ihrige dazugetan haben, dass Goethe Lust auf etwas Neues hatte.

Dass er in Weimar blieb, habe vor allem an einigen Seelenverwandten gelegen, die er schnell gefunden habe, ist Stadtführer Butze überzeugt: “Mit Prinzen ging er jagen und feiern. In Herder und Wieland fand er inspirierende Geistesgrößen. Aber vor allem war da natürlich Charlotte von Stein!” Die Hofdame wird rasch zu seiner wichtigsten Bezugsperson; ihre Beziehung indes war wohl rein platonisch.

In den 57 Jahren, die Goethe bis zu seinem Tod 1832 in Weimar lebte, wirkte er als Dichter, Staatsmann, Wissenschaftler und Kulturpolitiker. “Durch diese Vielseitigkeit entwickelte er Weimar zu einer europäischen Kulturmetropole”, sagt Stiftungspräsidentin Lorenz. “Goethe gab Weimar eine Seele und die Weltbedeutung, die es bis heute hat.”

Weimar ohne Goethe – das findet auch Peggy Kaiser undenkbar, die für die Stadtreinigung den Platz vor dem Bahnhof fegt. “Den hat man hier ja überall vor Augen.” Trotzdem fragt sie sich, was gerade die jüngere Generation noch mit ihm verbindet: “Ich glaube, dass das zu wenig vermittelt wird. Mein Großer geht jetzt in die 8. Klasse – da kam es in der Schule noch nicht vor.”