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Von Taugenichtsen und Weggabelungen

Junge Leute werden immer später erwachsen, frühere Generationen waren wagemutiger: soweit die Klischees. Manches trifft zu, anderes weniger. Klar ist: Die Suche nach dem eigenen Lebensweg hat sich verändert

Wanderlust, Musik und die „allerschönste Frau“: Darin findet der „Taugenichts“ bei Joseph von Eichendorff sein Glück. Dass er dafür die Heimat verlassen und in die Welt hinausziehen musste, gehörte zum Programm der Romantiker. Heute stehen verschiedenste Lebensentwürfe nebeneinander. Junge Menschen ziehen für Ausbildung oder Studium teils weit weg, andere wohnen lange zu Hause. Manche kehren in die Heimat zurück, manche nicht – und manche verlassen sie niemals. Das wirkt sich auch auf Familien und Freundschaften aus.

Lebensentwürfe sind sehr unterschiedlich

Statt eines bestimmten Zeitpunkts, an dem man als erwachsen gilt, ist das Erwachsenwerden heute eher ein Prozess, sagt der Chemnitzer Soziologe Bernhard Nauck. „Früher fiel vieles zusammen: der Auszug aus dem Elternhaus, die Heirat, der Einstieg in den Beruf, eine neue Wohnung. Das war zeitlich an die rechtliche Volljährigkeit gekoppelt.“ Heute drifteten diese Entwicklungen zeitlich stark auseinander.
Oft ist zu lesen, die Mobilität würde steigen. Nach Beobachtung Naucks hat sie vielmehr abgenommen. Im 19. Jahrhundert – zu dessen Beginn der „Taugenichts“ geschrieben wurde – seien die Menschen deutlich mobiler gewesen. Und auch vor einigen Jahren seien Familien noch selbstverständlich umgezogen, wenn der Hauptverdiener in einen 30 Kilometer entfernten Ort versetzt wurde. „Heute würde das kein Mensch mehr machen“, so Nauck. „Jeder würde sich ins Auto setzen und pendeln. Insofern ist die Bezogenheit auf den Ort, an dem man aufgewachsen ist, größer geworden.“

Menschen sind heute nicht unbedingt flexibler

Das beobachtet auch Ulrich Hoffmann, Ehe- und Familienseelsorger in Augsburg. Viele junge Menschen suchten sich einen nahe gelegenen Studienort oder wohnten in der Ausbildungszeit weiterhin im Elternhaus. Auslandsaufenthalte während des Studiums seien fast immer zeitlich befristet. Und durch WhatsApp, Skype und Co. könnten Kinder „auch dann Kontakt zu ihren Eltern halten, wenn sie am anderen Ende der Welt sind“. Der Radius, in dem Menschen sich von ihrem Ursprungsort entfernten, sei größer geworden – die Anbindung dagegen enger.
Nauck bestätigt diesen Trend. Vor 100 Jahren hätten Migranten „vielleicht zwei Mal im Jahr einen Brief nach Hause geschrieben“. Später sei es üblich gewesen, jeden Sonntag mit den Eltern zu telefonieren – Ferngespräche unter der Woche waren schließlich teuer. Heute halte man einander fast stündlich auf dem Laufenden. Die emotionale Bindung sei auch deshalb intensiver geworden, weil die Anzahl der Kinder abgenommen habe. „Wenn die Kinder knapp werden, haben Eltern einen hohen Anspruch, sich um sie zu kümmern“, erklärt der Soziologe. Bei alltäglichen Informationen wie „ich bin gut angekommen“ sei es eine nette Sache, sich unkompliziert melden zu können, meint Hoffmann. „Andererseits weiß ich aus der beraterischen Praxis, dass viele einander herzliche Chatnachrichten schicken – aber im Gespräch geht gar nichts.“ Auch mache sich das Gegenüber manchmal gleich Sorgen, wenn jemand ein paar Tage oder auch nur wenige Stunden nicht erreichbar sei. „Es wird immer schwerer, einmal wirklich auszusteigen.“

Großeltern ein Faktor, um Kinder zu bekommen

Ein Vorteil kann dieser enge Kontakt über weite Entfernungen sein, wenn jemand nach einigen Jahren in die alte Heimat zurückkommt. „Früher kehrte man nach 30 Jahren zurück in die Stadt der Kindheit. Zumeist gelang es nicht, alte Freundschaften aufzuwärmen“, sagt Nauck. Heute pflegten die Menschen diese Kontakte oft dauerhaft.
Typischerweise näherten Menschen sich der Ursprungsfamilie wieder an, wenn Kinder geboren werden – vor allem in Westdeutschland. „Im Osten ist die Kinderbetreuung besser ausgebaut und wird selbstverständlich in Anspruch genommen, während die Großmutter im Westen noch ein wesentlicher Faktor ist, um überhaupt ein Kind in die Welt zu setzen“, so der Soziologe. Theologe Hoffmann hat ebenfalls den Eindruck, dass „die Großeltern bei allen Kita-Plätzen immer noch die beliebtesten Ansprechpartner für Paare mit Kindern sind“.
Eine zweite Weggabelung verortet Nauck biographisch etwa 25 Jahre später: wenn Eltern pflegebedürftig werden oder vereinsamen. Dann ziehen teils auch die Älteren noch einmal um – wenn sie dafür fit genug sind –, oft in die Nähe der Kinder.

Manchmal kann Abstand zur Familie gut sein

Jeder Lebensweg ist unterschiedlich, doch für Seelsorger Hoffmann steht fest: Der Familie kann niemand entkommen. „Das hat schon bei biblischen Propheten nicht funktioniert“, sagt er. Sich weit von der Familie zu entfernen, um Problemen zu entgehen, sei nur auf den ersten Blick eine Lösung. Er rät daher zu Unterbrechungen statt Abbrüchen. „Wer die Eltern ständig vor Augen hat, tut sich schwerer damit, den eigenen Platz zu finden. Sie müssen vielmehr im Rücken der Kinder sein mit dem Signal: Geh deinen Weg!“
In früheren Zeiten haben Auszeiten im Kloster dafür gesorgt, dass Menschen zu sich selbst finden und klarer sehen, wie der eigene Weg aussehen könne. Hoffmann: „Das kann auch heute noch eine gute Lösung sein.“