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Von Macht und Ohnmacht

In der Leidensgeschichte Jesu treffen zwei widerstreitende Wirklichkeiten aufeinander. Am Ende ist – so unwahrscheinlich es auch klingt – der Tod besiegt

Jedes Jahr im Frühling, während die Natur zu neuem Leben erwacht, singen Christen von Blut und Wunden. Sie hören uralte Texte von Leid, Gewalt, Bosheit und menschlicher Schwäche und beten zu einem Gott, der mit Dornen gekrönt in den Tod geht. Eine Geschichte, die man sich kaum bis zum Ende anhören mag.
Es beginnt damit, dass Gott  sich erniedrigt; dass er von seinem Thron steigt und seine Macht als Schöpfer und Herrscher der Welt aufgibt, um als Mensch unter Menschen zu leben. Nicht als König, sondern als Diener.
In der Passionsgeschichte wird das bis ans Äußerste getrieben: Die göttliche Souveränität, die Jesus während seines irdischen Lebens zeigte, ist dahin. Er wirkt keine Wunder mehr; er heilt nicht mehr und erweckt nicht vom Tode. Sogar die Möglichkeit, sein eigenes Leben selbst zu gestalten, hat er aufgegeben. Alles Königliche ist abgelegt. Jetzt schlagen auch im Leben des Gottessohnes die Mächte zu, die jedes Menschenleben bedrohen: Verleumdung, Willkür, Gewalt, Tod. Er ist zum Spielball der Mächte geworden.
Und doch ist Jesus mehr, gerade indem er sich ausliefert. Denn er verzichtet aus eigener Souveränität auf seine Macht und gibt sich stattdessen ganz in die Hände Gottes. Er vertraut darauf, dass Gott souverän ist; dass er handlungsfähig ist gegenüber der Macht des Todes, die alle Lebensmöglichkeiten zerstört.
Mit diesem bewussten Schritt  der Machtübergabe erschafft Jesus eine Wirklichkeit, die anders ist als die sichtbare menschliche Wirklichkeit; eine Realität, in der Gott herrscht und der Tod besiegt und zum Spott geworden ist.
Macht und Ohnmacht gleichzeitig; zwei Wirklichkeiten, die sich ausschließen und doch beide wirksam sind – das ist für unseren Verstand nicht zu fassen und mit Worten nicht auszudrücken. Die Evangelisten greifen daher in der Passionsgeschichte zu symbolischen Beschreibungen, um diese beiden aufeinanderprallenden Wirklichkeiten deutlich zu machen. So lassen sie die Zeichen der Königsherrschaft in die Beschreibung der Erniedrigung einfließen: Der Purpurmantel und die Dornenkrone zeigen, obwohl als Verhöhnung gemeint, die wahre Macht Jesu. Und auf die Fragen des Hohepriesters und des Pilatus, ob er der Messias – also der von Gott zum König Auserwählte – oder auch der König der Juden sei, antwortet Jesus beide Male mit Ja.
Was die Menschen während des Prozesses sehen, ist ein hilfloser Mensch, der schließlich unter Qualen am Kreuz stirbt. Was die Gläubigen sehen, ist göttliche Liebe und eine Macht, die der Tod nicht zerbrechen kann.
Darum richten wir Christen uns nicht ein in der rein menschlichen, irdischen Wirklichkeit. Wir leben darin und wir gestalten sie mit – aber wir hoffen über sie hinaus: Dass der, der seine Macht verliert, am Ende siegt, weil Gott die Macht in Händen hält. Die Geschichte von Blut und Wunden erzählt davon.