Nein, Leonard Bernstein war kein Mann der halben Sachen. Von früher Jugend an brannte er für die Musik. In aller Welt brillierte er als Dirigent, ab und an auch als Pianist. Er zog reihenweise Schüler heran und gewann mit seinen „Young People‘s Concerts“ Generationen junger Leute für die klassische Musik. Und dann komponierte er auch noch: Opern und Musicals, Sinfonien und Kammermusik, Klavierstücke, Lieder und Chorwerke.
Privat schränkte sich Bernstein ebenfalls nicht ein. Sein Zigarettenkonsum war ebenso legendär wie seine Liebe zum Whisky. Auch mit der ehelichen Treue nahm es der bisexuelle Musiker nicht genau. Vor 100 Jahren, am 25. August 1918, wurde Bernstein als Sohn jüdisch-ukrainischer Einwanderer in Lawrence, Massachusetts, geboren.
Karrierestart mit einem Konzert ohne jede Probe
Dass er Raubbau mit seiner Gesundheit trieb, war dem Musiker sehr wohl bewusst. „Als ich Mitte 20 war, wurde bei mir ein Lungenemphysem diagnostiziert. Mit 35 würde ich tot sein, hieß es. Dann haben sie gesagt, ich würde mit 45 sterben. Dann mit 55. Doch ich kriege das schon hin“, sagte Bernstein 1986 in einem Interview. Da war er 68 – und hatte noch vier Jahre zu leben.
So leidenschaftlich Bernstein in der Öffentlichkeit stets wirkte – hinter der extrovertierten Persönlichkeit verbarg sich ein zerrissener Mensch. „Es war seine Tragödie, dass er, gerade weil er mit so vielen Talenten gesegnet war, immer einen Teil seines Selbst zugunsten eines anderen Teils vernachlässigen musste“, schreibt sein Biograph Humphrey Burton. Auch litt Bernstein darunter, dass seine „seriösen“ Kompositionen weit weniger Erfolg hatten als seine Musicals.
Bernsteins Karriere begann am 14. November 1943 in der Carnegie Hall mit einem Einspringen bei den New Yorker Philharmonikern. Der legendäre Dirigent Bruno Walter sagte ab, und der 25-jährige Assistent übernahm das Konzert ohne jede Probe. A star was born.
Auch in Europa verbreitete sich der Ruf des jungen Amerikaners. 1946 bereits gastierte Lonard Bernstein in Prag und London, 1948 war er der erste amerikanische Dirigent, der im Nachkriegsdeutschland auftrat. 1948 debütierte er in Wien, 1953 an der Mailänder Scala – auf der Bühne stand Maria Callas.
Parallel dazu machte Bernstein als Komponist auf sich aufmerksam: 1944 kam sein Musical „On the Town“ heraus, 1956 „Candide“, 1957 schließlich die legendäre „West Side Story“.
Und Bernstein lehrte: An der Universität, vor allem aber im Fernsehen, das er früh als Mittel zur Volksbildung erkannte. Legendär wurden seine auf CBS übertragenen „Young People’s Concerts“, bei denen er Jugendlichen auf seine unnachahmlich charmante Art Werke der klassischen Musik erklärte.
Bernsteins Dirigierrepertoire kannte kaum Grenzen: Klassiker wie Bach, Mozart oder Schumann gehörten ebenso dazu wie Opern von Verdi und Wagner oder Werke des 20. Jahrhunderts. Eine besondere Liebe verband ihn mit der Musik Gustav Mahlers, die er wieder fest im Konzertbetrieb verankerte.
Legendär ist auch sein Auftritt im Ostberliner Schauspielhaus am ersten Weihnachtstag 1989 mit Beethovens 9. Sinfonie. Als Hommage an den Mauerfall ließ er den Chor im Schlusssatz „Freiheit“, statt „Freude, schöner Götterfunken“ singen.
Eine wichtige Rolle in Bernsteins eigenem musikalischen Schaffen bildete der jüdische Glaube seiner Familie. So trägt seine dritte Sinfonie den Titel „Kaddish“, und die hebräischen „Chichester-Psalms“ gehören neben den Musicals zu seinen meist-gespielten Werken.
In den späten 1970er Jahren durchlebte Bernstein eine schwere Krise. Als der Musiker 1976 immer mehr Zeit mit einem Schüler verbrachte, setzte ihm seine Frau – obwohl längst leidgeprüft – ein Ultimatum: entweder er oder ich. Bernstein entschied sich, schweren Herzens, für den Freund. Just da erkrankte seine Frau an Krebs. Reumütig kehrte Bernstein zu ihr zurück und pflegte sie bis zu ihrem Tod 1978.
Hatte die Trennung den Ausbruch der Krankheit begünstigt? Diese Frage beschäftigte Bernstein seitdem.
Seinen Kindern freilich sind solche Vorwürfe fremd. „Es war manchmal schmerzhaft für uns“, sagte seine Tochter Jamie kürzlich in einem Interview mit Blick auf Bernsteins außereheliche homosexuelle Eskapaden. Zerstört aber habe er die Familie nicht. „Unsere Familie hatte eine ehrliche Nähe und Wärme. Die war so stark, dass wir einander eng verbunden blieben.“