Ein wenig Bammel hatte der Nürnberger Jesuitenpater Jörg Alt davor, wie die Mitgefangenen auf einen katholischen Priester in der Haft reagieren würden. Es hätte doch sein können, dass sie glaubten, er würde wegen sexuellen Missbrauchs einsitzen, erzählt der Klimaaktivist im Gespräch mit dem epd. Doch zu seiner Überraschung kamen sie auf den Priester zu, erzählten von ihren Problemen. Gefangene und Justizangestellte vertrauten sich ihm an.
So nutzte der promovierte Soziologe Jörg Alt die 25 Tage „Ersatzfreiheitsstrafe“ für das Nichtbezahlen einer Geldstrafe für eine Feldforschung und versprach den Menschen hinter Gittern, „draußen“ das Thema in den Blick zu rücken. Sein 50-seitiger Bericht ist auf seiner Homepage downloadbar. Bei einem Expertengespräch im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg stellte er ihn zur Diskussion.
Die darin geschilderte Schieflage, die sich in hohen Rückfallquoten von Straffälligen und viel Zeit, Geld und Ressourcen für den Aufenthalt hinter Gittern ausdrückt, überrascht die Experten nicht. Aber der Vorsitzende der katholischen Gefängnisseelsorger in Deutschland, Andreas Bär, findet es „erschreckend“, dass Alt schon nach 25 Tagen Aufenthalt im Gefängnis so genau alle prekären Punkte beschreiben kann.
Die Drogenproblematik hinter Gittern etwa: Es sei doch unrealistisch zu denken, dass Menschen mit Drogenproblemen im Knast „sitzen und nachdenken, wie sie sich verändern können“, erklärt Bär. Wer keine Ersatzstoffe erhalte, würde nur dran denken, wie er wieder an Drogen kommt. Mindestens 40 Prozent der Inhaftierten betreffe das, erläutert Norbert Wittmann, Geschäftsführender Vorstand der Mudra Jugend- und Drogenhilfe. In den Jugendanstalten sei der Anteil noch viel höher. „Viele sind in den JVAs falsch untergebracht“, sagt Wittmann, „sie brauchen Hilfe“.
Wenn Menschen auf Entzug sind, könne man sich fragen, ob sie überhaupt zurechnungsfähig sind „und es ist zu fragen, warum man sie überhaupt im normalen Strafvollzug unterbringt“, stellt Alt auch in seinem Bericht fest. Er hat erfahren, wie Mithäftlinge in den „besonders gesicherten Hafträumen“ brüllten, die Zellen unter Wasser setzten oder Überwachungskameras mit Kot oder Essen beschmierten.
Der Resozialisierungsgedanke, also Straftäter wieder in die Gesellschaft zurückzuführen, stehe im bayerischen Justizvollzug nicht an erster Stelle. „Da fehlt es an der Erkenntnis“, wirft der SPD-Landtagsabgeordnete Horst Arnold der Staatsregierung vor. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2023 das Fehlen eines Resozialisierungskonzepts im Freistaat festgestellt hatte, sei nun nachgebessert worden.
Aber in allen anderen Bundesländern in der Bundesrepublik stehe der Resozialisierungsaspekt in den sogenannten Vollzugszielen an erster Stelle. Nur Bayern habe den Schutz der Allgemeinheit nach vorn gezogen, bestätigt auch die Würzburger Professorin für Christliche Sozialethik, Michelle Becka, Autorin des Buchs „Ethik im Vollzug“. Dies aber übersehe, dass die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger langfristig damit erhöht werde, mit den Straffälligen „das Leben in sozialer Verantwortung einzuüben“.
Aber wie? Es herrscht große Personalnot in den JVAs. Zehn-Tage-Schichten, dann vier Tage frei: „Der Beruf hat kein hohes Image“, stellt Claudia Arabackyj fest, Stadträtin und Mitglied des JVA-Beirats Nürnberg. Es sei keine Seltenheit, dass zwei Beamte für 100 Gefangene eingesetzt seien, deren Zusammensetzung immer vielfältiger und schwieriger wird, stellt Alt im Bericht fest. Auch in der medizinischen Betreuung fehlten Kräfte, ebenso wie Sozialarbeiter, Psychologen oder Suchtberater.
Zweimal im Monat dürfen Häftlinge telefonieren. Allerdings muss während des Gesprächs ein Beamter zugegen sein und zuhören. „Dachten die, dass ich mit meiner alten Mutter einen Bankraub planen will“, sagt Alt und zweifelt an der Sinnhaftigkeit der Regel besonders dann, wenn der JVA-Bedienstete auch bei Gesprächen von Gefangenen auf Türkisch oder Russisch lauschen muss.
Eine Regel, deren Abschaffung sowohl den Bediensteten als auch dem „Betriebsklima“ nutzen würde, findet Alt. Er plädiert auch dafür, den in der Nürnberger JVA eingesperrten Radio- oder Fernsehnutzungsgebühren zu erlassen oder nicht für jede Kleinigkeit einen Antrag stellen zu müssen. Der Priester musste während der Haft seinen Besuch der sonntäglichen Messe beantragen: Der Antrag ging verloren, der Gefängnisseelsorger nahm ihn trotzdem auf die Teilnehmerliste.
„Aus den Augen, aus dem Sinn“ sind die Strafgefangenen für die Gesellschaft, stellt Michelle Becka fest. Weil sie keine Lobby hätten, ist sie froh, dass Jörg Alt mit seinem Bericht aus einem bayerischen Gefängnis zum Nachdenken anregt. Man sollte darüber diskutieren, wie sinnvoll Ersatzfreiheitsstrafen für Schwarzfahrer sind oder warum Entlassene von der Gesellschaft selten zweite Chancen bekommen, findet die Expertenrunde. „Man muss für Empathie werben – da hat die ganze Gesellschaft was zu tun“, sagt der SPD-Politiker Arnold. (2017/06.07.2025)