Artikel teilen:

Verfassungswidrig und nichtig

Die vom Bund im Infektionsschutzgesetz eingeführte sogenannte Triage-Regelung über die Verteilung begrenzter überlebenswichtiger Klinik-Intensivbetten an Patienten während einer Pandemie ist verfassungswidrig und nichtig. Die Regelung verletze die Berufsausübungsfreiheit der behandelnden Ärztinnen und Ärzte und stehe ihrem Recht, „frei von fachlichen Weisungen“ eine Heilbehandlung durchführen zu können, entgegen, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss vom 23. September. (AZ: 1 BvR 2284/23 und 1 BvR 2285/23) Dem Bund fehlt es nach Auffassung der Karlsruher Richterinnen und Richter für die konkreten Regelungen zudem an der Gesetzgebungskompetenz.

Hintergrund des Rechtsstreits war eine frühere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (AZ: 1 BvR 1541/20): Am 16. Dezember 2021 hatte es dem Gesetzgeber aufgegeben, Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingten Triage zu treffen. Komme es zu knappen intensivmedizinischen Behandlungsressourcen, dürften Menschen mit Behinderung bei der Auswahl, wer behandelt werden soll, nicht benachteiligt werden.

Daraufhin hatte der Bund das Infektionsschutzgesetz erweitert und Kriterien für die Triage aufgestellt. Danach sollte bei der Zuteilung knapper Krankenhausbetten in einer Pandemie nur die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit ausschlaggebend sein. Eine Diskriminierung wegen Behinderung, Alter, Geschlecht oder Herkunft war damit verboten.

Mehrere Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen Notfall- und Intensivmedizin sahen jedoch durch das Gesetz ihre Berufsfreiheit verletzt. Sie müssten selbst entscheiden können, wie sie in einer Pandemiesituation eine möglichst große Zahl an Patienten retten könnten, begründeten sie ihre Klage.

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die grundgesetzlich geschützte Berufsfreiheit auch beinhalte, dass Ärztinnen und Ärzte „frei von fachlichen Weisungen sind“. Sie dürften bei ihrer therapeutischen Verantwortung über das Ob und das Wie einer Heilbehandlung entscheiden. Diese Therapiefreiheit werde durch das Infektionsschutzgesetz aber eingeschränkt.

Dem Bund fehle es auch an der Gesetzgebungskompetenz, hieß es außerdem. Vielmehr seien die Bundesländer zuständig. Zwar könne er nach dem Grundgesetz „Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten“ bestimmen. Dies meine aber Maßnahmen, die der Eindämmung oder Vorbeugung dienen. Die Triage-Regelung sei aber kein Instrument der Vorbeugung oder der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Sie mindere Infektionsrisiken nicht, sondern lege nur fest, wer behandelt werden darf.

Der Bund habe die Triage-Regelung auch nicht als „öffentliche Fürsorge“ beschließen dürfen, für die er in einzelnen Bereichen zuständig sein könne. Das Gesetz habe primär keinen „fürsorglichen Charakter“, argumentierte das Gericht.