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Verfassungsprozess in Chile gescheitert

Der Anlauf zu einer neuen Verfassung für Chile ist gescheitert: Zum zweiten Mal in gut einem Jahr lehnten die Wählerinnen und Wähler des südamerikanischen Landes einen Entwurf dazu ab. In einem Referendum stimmten am Sonntag (Ortszeit) laut Zahlen der Nationalen Wahlbehörde 55,8 Prozent gegen und nur 44,2 Prozent für den neuen Verfassungstext. Linke Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen hatten für die Ablehnung geworben, da der Text nach ihrer Überzeugung einen Rückschritt darstellte.

Den neuen Verfassungsentwurf hatte ein eigens gewählter Verfassungsrat erarbeitet, in dem konservative Vertreter die Mehrheit hatten. Damit sollte die noch aus der Pinochet-Diktatur (1973-1990) stammende Carta Magna ersetzt werden.

Doch statt Zuversicht herrschten Politikmüdigkeit und Desinteresse. Hinzu kam eine zunehmende politische Polarisierung zwischen den rechtskonservativen Parteien und der linksgerichteten Regierung unter Präsident Gabriel Boric. Jetzt ist der gesamte durch die sozialen Unruhen 2019 angestoßene Verfassungsprozess gescheitert.

„Wir werden den Verfassungsprozess während unseres Mandates beenden, weil es andere Dringlichkeiten gibt“, fasste Präsident Boric am Sonntagabend die Stimmung zusammen. Die Regierungsparteien sähen Prioritäten in den Bereichen Sicherheit, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Renten, Gesundheit und Bildung. Bislang konnte die linksgerichtete Regierung kaum eigene Vorhaben umsetzen.

Boric und seine gesamte Regierung hatten für eine Ablehnung des Verfassungsentwurfs geworben. Sie beklagten Rückschritte im Vergleich zur 1980 beschlossenen Carta Magna, an der es inzwischen in den vergangenen Jahren bereits rund 60 weitreichende Änderungen gab.

Kritiker bemängelten, dass der Sozialstaat in dem neuen Entwurf nicht geschützt werde. Das private Bildung-, Gesundheits- und Rentensystem werde weiter zementiert. Ebenfalls von ihnen abgelehnt wurde ein Passus über die Umwandlung von Haftstrafen in Hausarrest. Sie befürchteten, dass so Militärs freikommen können, die wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur-Zeit inhaftiert sind. Auch eine Liberalisierung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch wurde in dem Entwurf abgelehnt. Chile gehört zu den Ländern Südamerikas mit einem strikten Abtreibungsverbot.

Unterstützung für den Verfassungsentwurf kam von der rechtsnationalen Opposition. Aber selbst das Unternehmertum in Chile fand keinen Grund für eine neue Verfassung, da sie ihre Interessen bereits gewahrt sahen.

2019 war ganz Chile von sozialen Protesten erfasst worden. Die mehrheitlich jungen Menschen protestierten gegen das ungerechte Bildungssystem, das ihnen Aufstiegschancen versperrte. Schnell entstand eine Massenbewegung, die sich für einen demokratischen Verfassungsprozess einsetze. Den Ursprung für die soziale Ungleichheit in dem Andenstaat sahen die Demonstranten in der Verfassung.

Die Verfassung von 1980 trägt eine eindeutig neoliberale Handschrift und sieht einen sogenannten subsidiären Staat vor, durch den die private Versorgung Vorrang vor der öffentlichen hat. Nationale Fonds, in die alle Arbeitnehmer einzahlen, beispielsweise für Gesundheit, Bildung oder Rente, werden als verfassungswidrig angesehen.

Das sollte der im vergangenen Jahr vorgelegte Verfassungsentwurf ändern. Im September 2022 stimmten jedoch bereits 62 Prozent gegen den Text. Viele Wähler hielten die Änderungen für zu weitgehend. Jetzt ist der Verfassungsprozess mit dem zweiten gescheiterten Referendum vorerst beendet. Die alte Carta Magna gilt weiter.