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Ungemein liebenswürdig

Da liegt er. Gut sichtbar auf einer Mauer. Vom Besitzer verloren. Von einer mitfühlenden Seele dort abgelegt. Teuer sieht er aus und warm. Ein einzelner schwarzer Handschuh aus Leder.
Mir kommt eine Erinnerung in den Sinn. Ich bin vielleicht acht Jahre alt. Mit meiner Grundschulklasse wandern wir rund um das Dorf meiner Kindheit. An einem Wegkreuz erzählt unser Lehrer die Geschichte dazu: Vor etlichen Jahren in einer klirrend kalten Winternacht ritt ein hochbetagter Priester ins Nachbardorf zu einem Sterbenden. Unterwegs verlor er einen seiner Handschuhe.
Nun war guter Rat teuer. Allein kam er nicht vom Pferd runter und wieder rauf. Also zog er auch den zweiten Handschuh aus und warf ihn zu dem anderen, damit der Finder beide haben möge, denn: „Handschuhe sind Zwillingsbrüder: der eine ohne den andern ist ein wertlos Ding“. So beschreibt der Dichter Friedrich Wilhelm Weber die Gedanken des Greises.

Als Kind hat mich diese Geschichte berührt. Was für eine liebenswürdige Geste. Ich habe mir immer einen Bettler vorgestellt – Sankt Martin lässt grüßen –, der die Handschuhe findet und nie wieder kalte Hände haben muss.
Heute, einige Jahrzehnte später, fasziniert mich die Geschichte vielleicht sogar noch mehr. Dann unsere Zeiten scheinen eisiger zu werden. Nicht die Winter, sondern der Umgang der Menschen miteinander. Da fehlt oft der Gedanke, etwas abzugeben, um anderen zu helfen. Umso mehr wärmt die Geschichte vom Handschuh mein Herz.
Übrigens war der schwarze Handschuh nach ein paar Tagen verschwunden. Hoffentlich wieder mit seinem Zwillingsbruder vereint.