Etwa drei Millionen Kinder und Jugendliche leben hierzulande mit einem suchtkranken Elternteil zusammen. Oft weiß niemand davon. Die Kinder versuchen die Eltern zu schützen – und lieben sie trotz allem bedingungslos.
Manchmal wird Daniela von der Vergangenheit eingeholt. Manchmal klingt die Stimme ihres Stiefvaters ihr im Ohr, obwohl sie längst erwachsen ist und er nicht mehr lebt: “Du bist nichts. Du kannst nichts. Aus Dir wird nichts. Dich will sowieso niemand, schau mal, wie Du aussiehst.” Es sind Sätze wie diese, die die 40 Jahre alte Kinderkrankenschwester aus dem Ruhrgebiet nie vergessen wird, obwohl ihr Stiefvater sie vor mehr als 25 Jahren ausgesprochen hat – im Rausch.
Daniela, die in diesem Text anonym bleiben möchte, wuchs mit einem alkoholkranken Stiefvater auf. “Er war mir ein guter Papa, wenn er nüchtern war. Er war sehr herzlich und wusste viel. Aber wenn er betrunken war, war er ein Monster und hat meine Mutter und mich psychisch terrorisiert.”
Kinder, deren Eltern eine Suchterkrankung haben, gibt es viele in Deutschland: Experten gehen von rund drei Millionen aus. Jedes fünfte bis sechste Kind in Deutschland ist demnach betroffen. Durchschnittlich gibt es in jeder Schulklasse jemanden aus einer suchtkranken Familie – oft ohne dass das Umfeld etwas davon weiß.
Kindheitserfahrungen prägen das ganze Leben. Auch im Erwachsenenalter “ploppen manche Situationen immer wieder auf”, sagt Daniela. Sie erinnert sich, dass ihr Stiefvater regelmäßig freitags nach Hause kam – sturzbetrunken. “Dann hatte er auch oft Unfälle. Einmal ist er zum Beispiel so gegen das Garagentor geknallt, dass er sich den Finger gebrochen hat.” Also fuhren sie ins Krankenhaus, Mama, Papa und Daniela – sie musste mit, weil sie noch klein und es spätabends war.
“Der Arzt sagte dann zu meiner Mutter, dass er den Finger leider ohne Spritze richten müsse: ‘Ihr Mann hat für eine Betäubung zu viel Alkohol im Blut.’ Meine Mutter schämte sich in Grund und Boden”, erzählt Daniela.
Scham ist auch oft mit dafür verantwortlich, dass krankhafter Alkoholkonsum in der Familie tabuisiert wird – vom Betroffenen selbst und von seinen Angehörigen. “Kinder aus suchtbelasteten Familien bekommen oft kein Wort heraus, wenn sie darüber reden sollen”, sagt Sozialpädagogin Andrea Renvert, die bei dem Projekt “Hilfen im Netz” junge Menschen mit suchtkranken Eltern online anonym berät. Es wird von NACOA Deutschland und Kidkit, der Drogenhilfe Köln, getragen.
Viele der Kinder und Jugendlichen begleiten die Beraterinnen und Berater über Jahre – ohne dass sie ihre jungen Klienten jemals persönlich kennenlernen oder auch nur telefonieren. Die Scham ist groß, viele Dinge unaussprechlich. Sie lassen sich besser schreiben, im Chat oder per E-Mail. “Viele sind schwer traumatisiert, haben oft Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt”, sagt Renvert. “Sie wollen anonym bleiben.”
Physische Gewalt hat Daniela nicht erfahren – aber psychisch war die Situation eine Dauerbelastung, mit der sie allein klar kommen musste. “Was bei mir zu Hause los war, wusste keiner”, sagt sie. “Ich habe mich nicht getraut, mich Freunden zu öffnen oder Lehrern etwas zu sagen.” Hinzu kam Angst um die Mutter, die den Aggressionen des Stiefvaters, wenn er betrunken war, ungeschützt ausgesetzt war – bis hin zu einem Messerwurf, der die Mutter nur knapp verfehlte. Daniela, nachts durch den Streit aufgeschreckt, musste ihn mitansehen. “So etwas prägt sich ein.” Noch heute sei sie eine aufmerksame Beobachterin ihres Umfelds und schnell in Alarmbereitschaft.
Nachbarn und andere Familienmitglieder hätten die Situation bei ihr zu Hause nicht erkannt – oder vielleicht nicht wahrhaben wollen. “Einmal hat meine Mutter versucht, das Thema in der Familie anzusprechen. Sie hat zu meiner Oma gesagt: ‘Dein Sohn hat ein Problem.’ Daraufhin sagte meine Oma: ‘Du gönnst ihm ja nur das Schäpschen nicht.'”
Das Wegschauen des Umfelds sei das eine – und das Schuldempfinden der Kinder das andere, was in solchen Situationen typisch sei, sagt Beraterin Renvert. “Die meisten Chats beginnen mit derselben Frage: ‘Was muss ich tun, damit es aufhört, das Trinken, das Schreien, das Schlagen?'” Die Sozialpädagogin schreibt auf diese verzweifelten Fragen immer dasselbe: “Du kannst nichts tun. Es ist nicht Deine Verantwortung.” Stattdessen rät sie: “Du musst etwas für Dich tun. Versuche, einen sicheren Platz in der Wohnung zu finden. Versuche, dich jemandem anzuvertrauen. Unternehme Dinge, die dir gut tun.”
Eines dürfe man nicht vergessen, sagt Renvert: “Was auch passiert, es sind und bleiben die Eltern. Die Kinder hoffen bis zum Schluss, dass die Welt heil wird, wenn sie sich nur genügend anstrengen.” Daniela bestätigt das: “Kinder lieben ihre Eltern bedingungslos und suchen die Schuld bei sich.”
In kleinen Schritten versucht Renvert in der Beratung, Vertrauen zu schaffen. Dabei helfe auch, dass sie selbst aus einer Familie stammt, in der der Vater getrunken hat und die Mutter psychisch krank war. “Daraus mache ich in der Beratung keinen Hehl”, sagt die 48-Jährige. “Es macht vielleicht auch Mut und zeigt, dass man das überleben kann. Die Kinder denken, es gibt keine andere Welt als die, die sie kennengelernt haben. Und ich sage ihnen: Doch, es gibt sie.”
Daniela, die selbst nie einen Tropfen Alkohol trinkt, wie sie erzählt, wünscht sich zudem ein Umdenken in der Gesellschaft. “Dass es einfach mal so stehengelassen wird, wenn man zum Beispiel auf Partys nichts trinken will – und man sich nicht dafür rechtfertigen muss.” Die Kinderkrankenschwester weiß aus ihrem Alltag, dass das lange noch nicht in der Fall ist. In dem Krankenhaus, in dem sie arbeitet, gibt es regelmäßig Fälle von Alkoholvergiftung bei Kindern und Jugendlichen – die jüngste Patientin war demnach erst zwölf Jahre alt.
Sie selbst sei als Jugendliche um jede Minute froh gewesen, “die ich nicht zu Hause war”. Die Hoffnung, dass sie irgendwann ein besseres Leben haben werde, habe sie dennoch nicht aufgegeben. “Ich habe einen tollen Partner, zwei gesunde Kinder und einen schönen Beruf als Kinderkrankenschwester”, sagt Daniela heute. “Nicht alle hätten das geschafft. Darauf bin ich ganz schön stolz.”