In dem Stück „Prima Facie“ spielt auch die Kulisse mit. Denn für die beklemmende Darstellung der juristischen Aufarbeitung einer Vergewaltigung zog das Theater Ulm ins Landgericht um. Im großen Gerichtssaal 126 hatte am Samstagabend das Stück der australisch-britischen Autorin Suzie Miller seine Premiere in Ulm, in der deutschen Fassung von Anne Rabe, inszeniert von Marlene Schäfer. Für Authentizität sorgt auch die Besetzung: Den Richter gibt der frühere Ulmer Landgerichtspräsident Thomas Dörr.
Allerdings sind dieser Jurist und die weitere Rolle eines Anwalts nur Nebenfiguren. Denn ganz im Mittelpunkt steht, fast wie in einem Einpersonenstück, die 35-jährige Anwältin Tessa Ensler, gespielt von Alexandra Ostapenko. Im ersten Teil des Stückes agiert Tessa als erfolgreiche, taffe Strafverteidigerin. Sie öffnet ihren juristischen Werkzeugkasten und schildert, wie ihre Gesprächsführung aufgebaut ist, mit der sie einen Zeugen der Gegenseite einlullt, damit zu Sorglosigkeit und Unkonzentriertheit verleitet, um dann mit gezielten Fragen, wie aus der Pistole geschossen, zuzuschlagen. Dabei verfolgt die Anwältin einzig das Ziel, beim Gericht Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu säen und somit eine Verurteilung zu verhindern.
Im zweiten Teil des Stückes dreht sich die Erzählperspektive komplett: Tessa wird selbst zum Opfer. Sie beginnt eine intime Beziehung mit dem erfolgreichen und attraktiven Anwaltskollegen Julian. Die beiden gehen gemeinsam essen, trinken dabei eine ganze Menge Alkohol und setzen den Abend in Tessas Wohnung fort. Dort kommt es – wie Tessa berichtet – nach einvernehmlichem „guten Sex“ zu dem massiven Sexualdelikt. Ausgeknockt von zu viel Alkohol ist Tessa in einem üblen Zustand und übergibt sich im Bad. Rücksichtslos und gegen ihren ausdrücklichen Protest schleppt Julian die Frau ins Bett zurück, fixiert sie mit seinen Händen, hält ihr den Mund zu und vergeht sich an ihr, wie Tessa erzählt.
Der dritte Teil des Stückes zeigt die Folgen der Vergewaltigung: Nachdem Julian eingeschlafen ist, flüchtet sich die völlig verstörte Tessa erst mal unter die Dusche, verlässt ziellos die Wohnung und wendet sich schließlich an die Polizei. Videoeinspielungen zeigen die geschäftsmäßig-nüchterne Befragung Tessas auf der Polizeiwache und die routinemäßige ärztliche Untersuchung.
Im vierten Teil schildert Tessa, die zwar nach außen hin noch funktioniert, aber eine gebrochene Frau ist, die Folgen der Vergewaltigung: innere Erstarrung, Selbstvorwürfe und das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben.
In der anschließenden Gerichtsverhandlung, die außer einigen wenigen Einwürfen des Richters von Tessa in einem inneren Monolog geschildert wird, erlebt die Anwältin jetzt in einem krassen Perspektivwechsel die Verhandlung aus der Sicht eines Opfers: wie Julian jede Schuld leugnet und wie sie der gewiefte Verteidiger angeht und selbst die juristische Fachfrau Tessa in Widersprüche verwickelt. Weil die Zweifel überwiegen, wird Julian schließlich freigesprochen.
Diesen Freispruch kommentiert Tessa mit einer grundsätzlichen Kritik an dem juristischen Verfahren, das völlig unsensibel die besondere Situation vergewaltigter Frauen negiere. Die „weibliche Erfahrung über sexuelle Übergriffe“ passe nicht in ein „von Männern geprägtes System“, weil Frauen ihre schlimmen Erlebnisse nicht sauber gebündelt als Fakten präsentieren könnten, sondern auf eine Vergewaltigung auch mit Erinnerungslücken und Verdrängungen als Schutzmechanismus reagierten. Deshalb formuliert Tessa am Ende den allgemeinen Appell, dass die Gesetzeslage bei sexuellen Übergriffen geändert werden müsse.
Das Premierenpublikum im Gerichtssaal reagierte nach einem deutlichen Moment der Betroffenheit mit großem Beifall und Standing Ovations. Das Stück ist noch bis Ende Juni in Ulm zu sehen. (1141/18.05.2025)