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“Tatort” über Echthaar-Handel – Echte blonde Strähnen sind Gold wert

Haare stehen im Mittelpunkt dieses Films: Das Geschäft mit ihnen, aber auch ihre kaum zu unterschätzende emotionale Bedeutung. Ein gelungener, mit Figurenzeichnung und Schauspiel punktender Zürcher “Tatort”.

“Ernsthaft jetzt?!” fragt die Kommissarin ungläubig: “Geschorenes Opfer, gestohlene Haare, falsche Perücken – und jetzt ein… Bootsunfall?!” Was Isabelle Grandjean damit sagen will: Ein bisschen over the top ist ihr aktueller Fall schon. Und da weiß sie noch gar nicht, dass kurz darauf auch noch eine junge Frau an einem hohen Turm baumeln wird (wenn auch nicht an einem langen Haarschopf wie im titelgebenden Grimmschen Märchen). Doch die dezente Überzeichnung, die den neuesten Züricher “Tatort” prägt, ist kein Versehen, sondern ein bewusst eingesetztes, eben “märchenhaftes” Stilmittel.

Der “Tatort: Rapunzel”, den das Erste am 15. Juni von 20.15 bis 21.45 Uhr ausstrahlt, erzählt aus dem Echthaar-Business. Im Zentrum des von Adrian Illien geschriebenen und Tobias Ineichen inszenierten Geschehens stehen gestohlene Haar-Spenden im Wert von 100.000 Franken. Die höchste Qualitätsstufe, so erfährt man, nennt sich “Remi-Haar”: Dabei handelt es sich um chemisch unbehandeltes Haar mit intakter, in gleicher Richtung ausgerichteter Schuppenschicht. Am teuersten ist – “Natürlich!”, kommentiert Grandjeans dunkelhaarige Kollegin Tessa Ott sarkastisch – blondes Haar aus Europa. Eben solches Haar, eine seidige blonde Mähne, hatte Vanessa Tomasi. Doch die hängt nach einer Partynacht tot in einer Baumkrone, mit halb rasiertem Kopf.

Grandjean und Ott, von Anna Pieri Zuercher und Carol Schuler überzeugend verkörpert, tauchen in ihrem neunten Fall also ein – in das gar nicht so kleine Zürcher Echthaar-Business. Vanessas Vater ist der Coiffeur Marco Tomasi (Bruno Cathomas), eine lokale Berühmtheit; seiner Tochter hatte er einen Ausbildungsplatz bei der Perückenmacherin Aurora Schneider (Stephanie Japp) organisiert. Ein Job, in dem Vanessa laut ihrer Lebensgefährtin Lynn (Elsa Langnäse) unglücklich war und schlecht bezahlt wurde.

Für Vanessas einstige Chefin hingegen ist das Herstellen von Echthaar-Perücken eine Herzensangelegenheit, kann sie so doch Krebskranken oder anderen mit ihrem Haarverlust hadernden Menschen helfen, ihnen “Würde” und “Sicherheit” zurückgeben. Auch für Werte wie Vitalität oder Macht steht Kopfhaar, wie man hier erfährt – in der Antike wiederum galten Haare als Sitz der Seele. Was Schneiders kahlköpfiger Kunde Vogel auch im Zürich des 21. Jahrhunderts noch ebenso sieht…

Diverse überzeugende Motive durchziehen diesen “Tatort”: Da wäre das ziemlich allgegenwärtige und natürlich zur Bankenstadt Zürich passende Thema Geld – wer viel hat, wer keins hat, was man damit jeweils anfängt. Ein weiterer Strang erzählt von Frauen, die nach ihren eigenen Moralkodizes leben. Oder auch die Materie, über die die Studentin Lynn ihre Bachelor-Arbeit schreibt: “Wie Wut die Schwachen stark macht”.

Ein vielschichtiges, geschickt konstruiertes Drehbuch hat Adrian Illien, der zuletzt für die Serie “Davos 1917” gefeiert wurde, da verfasst. Zudem ist es eine Vorlage, die reichlich Raum lässt für schillernde (und gut gespielte!) Figuren. Bemerkenswert, wie sich hier fast alle Protagonisten und vor allem Protagonistinnen ein Geheimnis bewahren, teils bis zum Schluss nicht ganz “auserklärt” werden. Vanessa und Lynn etwa – sind die beiden selbstbezogen, verwöhnt, gar ein bisschen arrogant? Oder ernsthaft verzweifelt, erschöpft, alleingelassen? Beantwortet wird diese Frage nicht – aber vermutlich ist es letztlich von allem ein wenig.

Schade bloß, dass der Krimi nach einem bildnerisch-atmosphärisch starken Auftakt dieses hohe Niveau über die Strecke nicht ganz zu halten vermag – stellenweise wird zu viel über Dialoge statt über Bilder und Action transportiert. Überflüssig auch das alberne Kommissariats-Geplänkel über den neuen Schnurrbart des Kriminaltechnikers Löwenherz (Aaron Arens): Offenbar sollte noch ein weiterer Haar-Aspekt untergebracht werden. Abgesehen von derlei kleinen Kritikpunkten jedoch ist “Rapunzel” ein spannender, so einfalls- wie bezugsreicher Krimi geworden – über ein im wahrsten Sinne des Wortes naheliegendes und zugleich originelles Thema.